Opus 01 - Das verbotene Buch
Kopf hindurch, und es war kein Glas, sondern ein Wasserspiegel. Er schoss daraus hervor, prustend und von Tropfen umsprüht, und fiel weich auf eine sonnenwarme Wiese. Im Liegen wendete Laurenz seinen Kopf hin und her. Bienen und Hummeln flogen geschäftig summend zwischen den Blumen umher. Zwei Schritte neben ihm entsprang aus einem Quellloch im Boden ein Bach. Mit einem ungläubigen Lächeln erhob sich Laurentius Answer. Auf dieser Wiese hatte er bereits als kleiner Knabe gespielt. Später, mit zwölf, dreizehn Jahren, hatte er mit seinen Brüdern und den Pagen, die bei ihnen auf Burg Answer aufwuchsen, hier auf dem Grasfeld Fechten und Lanzenstechen geübt.
Er war wieder zu Hause. Und über Burg Answer wehte die Fahne der Feinde, die seinen Vater im Verlies seiner eigenen Burg gefangen hielten.
Laurenz hob die Hände vor sein Gesicht. Ganz kurz erblickte er darin noch die Frau im Brunnen, wie sie ihn anlächelte und die Farben ihrer Augen schwindelerregend schnell wechselten und auf ihrer Zunge geheimnisvolle Zeichen aufblitzten – die zum Winkel gespreizten Finger und der erhobene Schild und die Raubvogelkralle.
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D
onnerschläge krachten auf ihn herab.
Panisch schaute er um sich – auf der Wiese unter der Burg gab es weit und breit keine Deckung. Und dabei dröhnte es so gewaltig, als ob von dort oben Kanonen auf ihn abgefeuert würden …
Amos rieb sich die Augen. Die Welt um ihn begann zu verblassen: Burg Answer in der Ferne, die Wiese, der Bachquell im Boden, selbst die Tropfen, die aus seinen Haaren rannen – alles wurde grau und schemenhaft. Dahinter kam die kleine Turmkammer zum Vorschein: der steinerne Tisch, darauf das aufgeschlagene Buch. Doch das Gurgeln von Wasser war weiterhin deutlich zu hören. Und ebenso die krachenden Explosionen.
»Ich bin nicht Laurentius«, murmelte er vor sich hin. »Ich bin Amos von Hohenstein.« Benommen erhob er sich von der Steinbank. Draußen tobte noch immer das Unwetter. Die dröhnenden Schläge kamen vom Donner, das Gurgeln und Glucksen vom Sturzregen, der unverändert auf Turm und Felsen niederging. Blitze zerrissen den Himmel und erfüllten die kleine Kammer mit zuckendem, blendend weißem Licht.
Wie lange mochte er in Laurenz’ Welt gewesen sein? Amos trat an die Fensterluke, die nach Westen hinausging – dunkle Wolken jagten noch immer über den Himmel, doch zum Horizont hin begannen sie sich flammend rot zu verfärben. Der Tag neigte sich bereits wieder.
Fröstelnd rieb er sich über Brust und Arme. Die Luft war empfindlich abgekühlt, und sein Hemd, das er am Morgen abgestreift hatte, lag in einer Pfütze aus Regenwasser am Boden. Mit leisem Bedauern dachte Amos an seine alten Anziehsachen, Hemd und Wams, die er am Waldsee zurückgelassen hatte.
Aber dafür hatte er es glücklicherweise auch geschafft, die Bücherjäger draußen im Wald abzuschütteln. Oder etwa nicht? Er ging von Fenster zu Fenster und schaute im zuckenden Licht der Blitze aufmerksam hinaus. Weder von Skythis noch von dessenmagerem Spürhund Johannes konnte er auch nur die geringste Spur entdecken. Vielleicht hatte Johannes dem älteren Bücherjäger ja wirklich die Gefolgschaft aufgekündigt und war auf und davon gelaufen? Falls sie zuvor der falschen Fährte bis zu ihrem Ende gefolgt waren, musste Johannes mittlerweile den größten Teil der ersten Geschichte aus dem
Buch der Geister
gelesen haben. Und folglich müsste auch seine Begierde, das Buch zu retten und zu beschützen, damit er weiter darin lesen könnte, längst viel größer sein als seine Angst vor dem angeblichen Teufelswerk.
Während Amos dies dachte, trat er an die gen Osten weisende Fensterscharte und das Herz blieb ihm beinahe stehen. Er stöhnte auf, duckte sich im gleichen Moment unter die Luke und spähte nur noch mit einem halben Auge hinaus. Hatte der Mann da drüben ihn etwa schon bemerkt? Hinter der Maske aus Lederflicken hatten seine Augen ganz kurz aufgeblitzt, soweit dies im ungewissen Gewitterlicht überhaupt zu erkennen war. Er stand am Rand der Schlucht, gerade an der Stelle, von der aus Amos selbst am Morgen sein Seil zum Eisenhaken unter der Turmtür hinübergeworfen hatte. Doch nun heulte da draußen der Sturm so gewaltig über dem kahlen Plateau, dass der Mann beinahe in den Abgrund hinabgeworfen wurde. Von überall her strömte Wasser über die zur Schlucht hin abfallende Anhöhe, und als er sich umwandte und vom Abgrund zurückweichen wollte, geriet er ins Straucheln und fiel der Länge
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