Opus 01 - Das verbotene Buch
lassen. Außer Atem blieb er irgendwann stehen und presste sich die Fäuste in die Seiten. Eben schlug es vier Uhr – er sah regelrecht vor sich, wie der Setzer Hebedank traurig den Kopf schüttelte und durch ein schmales Türchen wieder in der Druckerei verschwand.
Aber vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren? Verstohlen zog er den Brief unter seinem Wams hervor. Das Kuvert war zerknickt und an einer Ecke eingerissen, aber viel wichtiger war doch: Er hatte den Brief gegen alle Angriffe verteidigt.
Seltsamerweise war der Lederriemen darum gewickelt, den das Mädchen vorhin um den Hals getragen hatte – das silberne Dreieck hing noch daran, nur der Augenstein war nicht mehr da. Er musste ihr im Handgemenge das Amulett vom Hals gerissen haben, ohne es zu merken, und nachher hatte er es anscheinend mit dem Brief zusammen eingesteckt. Das hat sie nun davon, dachte Amos. Sie hatte ihn bestehlen wollen – und stattdessen trug er nun etwas in seiner Tasche, das der Diebin gehörte.
Das Stadtviertel unter der Burg war weitläufiger, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Eine weitere halbe Stunde verging, bis Amos endlich den Egidienplatz fand, wo die berühmte Druckerei Koberger in einer ganzen Häuserflucht untergebracht war. Laut Kronus war es die größte Druckerei in Deutschland und eine der bedeutendsten in der ganzen Welt. Anton Koberger hatte die Schedel’sche Weltchronik , das ebenso berühmte Arzneibuch und viele weitere Werke in deutscher und lateinischer Sprache herausgebracht. Eingeschüchtert schlich Amos um den Gebäudekomplex herum, bis er an der rückwärtigen Seite auf ein unscheinbares Tor stieß. Er trat in den Hinterhof, sah Lastkarren, die mit gewaltigen Papierballen und gegerbten Tierhäuten beladen waren, und näherte sich einer halb offen stehenden Tür, durch die Hämmern und Stampfen nach draußen drang.
Hinter der Tür saßen zwei Dutzend Männer in grauen Schürzen, die metallene Lettern in Kästen sortierten oder in Metallformen zu Wörtern und Zeilen zusammensetzten. Das Stampfen und Hämmern musste aus weiter entfernten Hallen herüberschallen, denn hier in der Setzerei war es bis auf das leise Klirren der Drucklettern still.
Ein älterer Handwerker, der hinter einem erhöht aufgestellten Pult gearbeitet hatte, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und kam mit grimmigem Gesichtsausdruck auf Amos zu. »Was suchst du hier, Bursche?«, fragte er in abweisendem Ton.
»Ich suche …«, sagte Amos und musste erst einmal schlucken. »Zum Setzer Hebedank will ich«, setzte er dann neu an. Er zogden Brief aus seinem Wams, sodass eine Ecke des Manuskripts aus dem zerfetzten Umschlag hervorsah.
Der Mann schüttelte zornig den Kopf. »Verschwinde«, sagte er so leise, dass Amos ihn nur mit Mühe verstand. »Hier gibt es keinen Hebedank.«
»Aber ich habe einen Brief für ihn«, beharrte Amos ebenso leise.
Da packte ihn der andere beim Arm und zog ihn nach draußen. »Bist du verrückt?«, zischte er. »Warum stellst du dich nicht gleich auf den Marktplatz und schreist herum, dass du dich nicht um den Buchzensor scherst?«
»Den Buchzensor?«, wiederholte Amos. Er verstand nun überhaupt nichts mehr.
»Wenn deine Papiere in Ordnung sind«, knurrte der Handwerker, »dann geh vorn in die Offizin und gib dort alles ab, wie es sich gehört. Und wenn nicht …« Sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal milder. Mit einem nahezu väterlichen Lächeln sah er Amos an. Doch seinen Satz sprach er nicht zu Ende, sondern ließ ihn vor der Hintertür der weltberühmten Druckerei Koberger einfach stehen.
Mit hängendem Kopf trottete Amos auf den Egidienplatz zurück. Den Umschlag hielt er noch immer in der Hand, und ohne recht zu merken, was er da machte, ging er abermals um das Gebäude herum zum vorderen Eingang. Der sah hundertmal prächtiger aus als die Hintertür zur Setzerei – eine geschwungene Treppe führte zu einer zweiflügeligen Tür hinauf, über der in Schmucklettern das Wort Offizin eingemeißelt war. Während Amos noch überlegte, ob er sich vielleicht dort im Büro der Druckerei nach dem Setzer Hebedank erkundigen sollte, schwang oben die Tür auf, und ein uniformierter Wächter oder Polizist trat über die Schwelle. Er trug einen gewaltigen Schnauzbart, und bei Amos’ Anblick tastete seine Hand unwillkürlich nach dem Knüppel, den er links an seinem Gürtel trug.
Und da verlor Amos die Nerven. Er war sowieso schon völlig durcheinander, nachdem er den Brief
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