Opus 01 - Das verbotene Buch
zweimal gerettet und danndoch noch alles verpatzt hatte. Der Wächter mit dem schrecklichen Schnauzbart war einfach mehr, als er jetzt noch ertragen konnte. Zumal er den halb aufgerissenen Briefumschlag immer noch offen in der Hand trug. Und zumal der Wächter ihm jetzt auch noch etwas zurief, das ungefähr klang wie »He, Junge, wo hast du das geklaut?«.
So als ob er ein Dieb wäre und den Brief gestohlen statt verteidigt hätte – nein, jetzt reichte es Amos wirklich: Er warf sich herum und rannte Hals über Kopf davon. Hinter ihm blies der Wächter Alarm, und von verschiedenen Seiten antworteten ihm weitere Büttel, indem sie gleichfalls in ihre Hörner bliesen.
Der Buchzensor?, dachte Amos im Rennen. Und einen Hebedank kannten sie dort angeblich gar nicht? Und das blonde Mädchen war vielleicht einfach in den Brunnen gesprungen, als es vorhin so plötzlich verschwunden war? Amos rannte und rannte, und in seinem Kopf wirbelten die Bilder und Fragen und Rätsel durcheinander, und erst als er vollkommen außer Atem war, blieb er notgedrungen wieder stehen.
Um ihn herum drehte sich alles, und plötzlich saß er auf dem Boden, obwohl er sich nicht erinnern konnte, dass er sich hingesetzt hatte.
Er schaute sich um und versuchte, wieder zu Puste zu kommen. Von dem Stadtknecht mit dem furchterregenden Schnauzbart war weit und breit nichts mehr zu sehen, aber das hieß noch lange nicht, dass er die Büttel wirklich abgeschüttelt hatte. Doch glücklicherweise hielt nun neben ihm eine Kutsche, und der alte Mann auf dem Bock nickte ihm aufmunternd zu und sagte: »Ihr seht aus, als ob Ihr eine Droschke gebrauchen könntet, junger Herr.«
Das ließ sich Amos nicht zweimal sagen. Mit weichen Knien kletterte er auf den Wagen. »Bring mich zum Waisenhaus der heiligen Ottilie«, sagte er.
Während der Fahrt sah sich Amos immer wieder argwöhnisch nach allen Seiten um. Dabei konnte er seine Augen nur noch mit Mühe aufhalten, und ohnehin hätte er gar nicht sagen können,vor welchen Verfolgern er sich fürchtete – vor dem grünäugigen Mädchen und ihren Helfershelfern, die ihm Kronus’ Umschlag stehlen wollten, oder vor den Stadtknechten, die ihn verdächtigten, den Brief geklaut zu haben.
8
O
da machte große Augen.
»Amos? Bist du’s wirklich?« Seine Schwester schloss ihn in die Arme und schob ihn im nächsten Moment wieder von sich fort. »Wie groß du geworden bist!« Sie nahm ihn bei den Händen und staunte ihn an.
Und du erst, dachte Amos. Mit ihren sechzehneinhalb Jahren war Oda offenkundig kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau. Obwohl er mittlerweile einen halben Kopf größer war als sie, kam er sich neben ihr linkisch und unfertig vor.
Oda schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Locken flogen. »Wo kommst du denn überhaupt her?«, rief sie aus. »Jetzt sag doch auch mal was!«
Doch kaum hatte Amos zu einer Antwort angesetzt, da unterbrach sie ihn schon wieder. »Deine Stimme, Amos! Du klingst wie …« Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augen begannen zu glitzern. Auf einmal sah sie wieder wie das kleine Mädchen aus, das sie in seiner Erinnerung immer noch war. »… wie Vater, du klingst genau wie Papa!«, brachte sie unter Tränen hervor.
Aufs Neue umarmte sie ihn und bedeckte sein Gesicht mit feuchten Küssen. Es war Amos sehr peinlich, auch wenn außer ihnen niemand in Odas Zimmer war. Tante Ulrika hatte ihn streng gemustert, als er so plötzlich vor ihrer Tür stand, und missbilligend die Nase gerümpft, weil ihn ein Geruch nach Pferd und Schweiß umwehte. Doch glücklicherweise war sie feinfühlig genug, die Geschwister bei ihrem Wiedersehen allein zu lassen.
»Ich weiß, Oda, ich weiß ja«, murmelte Amos und versuchte, sich behutsam aus ihrer Umarmung zu befreien.
Seit sie durch den Tod ihrer Eltern auseinandergerissen worden waren, hatte er seine Schwester erst ein einziges Mal getroffen – vor mehr als einem Jahr, als sie mit Tante Ulrika hinaus nach Hohenstein gekommen war. Dort allerdings hatte sich die sittenstrenge Tante gleich nach ihrer Ankunft mit ihrem Bruder Heribert überworfen – »wie in der widerlichsten aller Höllen« ging es nach ihrem Urteil auf Burg Hohenstein zu. Dabei hatte Heribert aus Anlass ihres Besuchs sogar die Fahne der Edlen von Hohenstein auf dem Dach des Wohnturms aufpflanzen lassen. Darauf war ein stilisierter Adler über zwei gekreuzten Schwertern zu sehen, deren Spitzen die Augen eines niedergestreckten Lindwurms durchbohrten. Doch auch diese
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