Opus 01 - Das verbotene Buch
Ehrenbezeugung hatte Tante Ulrika nicht versöhnlich gestimmt: Sie war bereits nach zwei Tagen wieder abgereist und hatte Oda wieder mitgenommen, und seit damals hatten sich die Geschwister nicht mehr gesehen.
Endlich gelang es ihm, sich von ihr zu lösen. Er trat zum Fenster und schaute unauffällig auf die Gasse hinaus. Kein Stadtknecht, ob mit oder ohne Schnauzbart, weit und breit. So wenig wie ein blondes Mädchen mit grünen Augen und diebischer Hand.
»Amos, was ist denn mit dir? Was stehst du dort am Fenster wie ein Fremder?« Als er sich umwandte, saß Oda auf einem Stuhl an ihrem Tisch. Ihr Zimmer war schmal, düster, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein Bett, eine Truhe, daneben der kleine Tisch mit zwei hölzernen Stühlen. Kein Vergleich mit den großen, hellen Zimmern früher in ihrem Elternhaus, mit dem Himmelbett in Odas Kammer, den bemalten Schränken, den bequemen Sesseln in der großen Stube. Sogar ein Klavichord gab es dort, auf dem ihre Mutter Mathilde oftmals abends sehnsuchtsvolle Melodien gespielt hatte. »Komm schon, setz dich zu mir«, sagte Amos’ Schwester, »lass uns erzählen. Was führt dich nach Nürnberg – du bist doch nicht nur wegen mir gekommen?«
»Ein eiliger Auftrag.« Amos warf rasch noch einen Blick nach draußen – der Abend dämmerte, die Gasse war still und menschenleer.»Ich darf nichts weiter sagen, Schwesterlein.« Er setzte sich zu ihr, und sie beugte sich zu ihm herüber und nahm seine Linke zwischen ihre beiden Hände.
»Ein Auftrag – doch nicht etwa von Onkel Heribert?«
Er schüttelte den Kopf. »Der Onkel hat nichts damit zu tun. Lass uns nicht darüber reden, Oda – ich darf nicht.«
Sie sah ihn unter gerunzelten Augenbrauen an. »Schwöre mir, dass es nichts Unrechtes ist«, verlangte sie. »Dass du niemals Gottes und der Fürsten Gesetze brechen wirst – schwör’s mir, Amos, bei der Seligkeit unserer Eltern!«
Er hob seine Rechte und öffnete den Mund zum Schwur. Aber dann fiel ihm ein, was vorhin der unwirsche Handwerker in der Setzerei zu ihm gesagt hatte: Es gab einen Buchzensor, der darüber entschied, welche Bücher gedruckt werden durften und welche nicht. Und
Das Buch der Geister
, an dem Kronus seit einem halben Leben arbeitete, gehörte doch zweifellos zu den Büchern, die zu drucken der Zensor nie erlauben würde. Weshalb sonst hielt sich Kronus in dem einstigen Mühlenhof versteckt, und wozu sonst hatte er Amos zu dem geheimnisvollen Setzer Hebedank geschickt? Doch höchstwahrscheinlich deshalb, weil Hebedank dafür sorgen sollte, dass
Das Buch der Geister
auch ohne Erlaubnis des Zensors gedruckt würde.
Amos ließ seine Hand auf den Tisch zurückfallen. »Ich kann nicht«, sagte er. »Mit dem Onkel hat das aber nichts zu tun«, fügte er eilig hinzu, »und Unrecht ist es bestimmt auch nicht.« Er zuckte mit den Achseln. Wie er Oda kannte, würde sie sich mit dieser Antwort bestimmt nicht zufriedengeben. Aber mehr konnte er ihr im Moment nicht offenbaren.
»Unrecht ist es nicht, aber schwören kannst du trotzdem nicht?« Oda umklammerte seine Hand nun so fest, als ob er sonst augenblicklich in die Hölle hinabstürzen würde. Ihre Augen begannen sich schon wieder mit Tränen zu füllen. »Hast du vergessen, was ich unserer Mutter versprochen habe – wenige Tage vor ihrem Tod?«
In dem streng geschnittenen grauen Gewand, das sie auf Geheiß von Tante Ulrika tragen musste, sah Oda fast wie eine Nonne aus. Mit ihrer blassen Haut, der schlanken und doch kräftigen Gestalt ähnelte sie der Mutter so sehr, dass Amos sie immer wieder ansehen musste. Und dann ganz rasch wegschauen, wenn es in seinem Hals zu brennen begann.
»Was redest du da, Oda«, sagte er, »wie könnte ich das jemals vergessen?«
»Aber du benimmst dich«, schimpfte sie, »als ob dich das alles nichts mehr anginge – als ob nur noch Onkel Heribert für dich zählen würde.«
»Oh Gott, Oda, bitte glaub mir doch.« Wie sollte er es ihr nur begreiflich machen? »Mit dem Onkel hat das alles nichts zu tun!«
Glücklicherweise wurde gerade in diesem Moment an die Tür geklopft. Nachdem Oda »Herein!« gerufen hatte, traten zwei der kleinen Mädchen ein, die in dem Waisenhaus unter Tante Ulrikas strenger Obhut aufwuchsen. Mit ihren unförmigen dunkelgrauen Kitteln, die Haare unter hellgrauen Hauben verborgen, sahen sie wie traurige kleine Vögel aus, die aus ihrem Nest gefallen waren. Schüchtern verneigten sie sich vor dem Besucher und trugen dann ein einfaches
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