Opus 01 - Das verbotene Buch

sich allerdings nicht bestreiten.
    Also einverstanden, ich bewahre es für dich auf . Es verbindet uns noch enger miteinander . Trotz seiner Sterbensmüdigkeit hatte er ihr noch auseinandergesetzt, dass es ein zweites, verborgenes Wappen der Ritter von Hohenstein gab, in dem genau dieses Dreieck mit dem brennend blauen Auge darin eine geheimnisvolle Rolle spielte.
    Nun drehte er sich ihr im Liegen zu und stützte seinen Kopf in die linke Hand. Obwohl er nur wenige Stunden geschlafen haben konnte, fühlte er sich erfrischt und wieder voller Tatendrang. Und dieses Wunder hatte einzig sie bewirkt. Sie – Klara, die neben ihm lag und lächelnd schlief.
    Auf meine Art war auch ich ein besonderes Kind , hatte sie ihm erklärt, während sie die Wunden an seiner Schulter mit einem sauberen Tuchfetzen gesäubert hatte. Schon als ganz kleines Mädchen konnte ich mit meinen Händen heilen, und auch bei mir verlor sich diese Gabe dann für viele Jahre und kehrte erst wieder, als ich gerade zwölf geworden war .
    Überall, wo ihre Finger ihn berührten, hatten sich Schmerz und Taubheit augenblicklich in ein höchst angenehmes Prickeln verwandelt. Es fühlte sich an, als ob sie ihm mit ihren Fingerspitzen winzige Lichtpfeile in die Haut schießen würde – so warm, so pulsierend.
    Wegen unserer Gaben also wurden wir ausgewählt – als Novizen jenes Ordens von Geistesbrüdern? Er erinnerte sich noch, dass er ihr diese Frage gesandt hatte, doch bevor ihn ihre Antwort erreichen konnte, war er eingeschlafen.
    Wobei Einschlafen allerdings das ganz und gar falsche Wort war. Er hatte die Augen geschlossen und war im selben Moment in eine andere Welt hinübergezogen worden – oder zumindest an einen anderen Ort. So wie es ihm bisher nur beim
Buch der Geister
geschehen war, wenn er die ersten Zeilen einer Geschichte gelesen hatte und augenblicklich in Ritter Laurenz verwandelt worden war.
    Ungeduldig wartete er darauf, dass Klara wach wurde, damit er ihr von seinem Traum erzählen konnte. Aber es war kein gewöhnliches Schlafen und Träumen gewesen – nie zuvor in seinem ganzen Leben hatte er sich so überwach und bei Sinnen gefühlt wie dort in jener Welt, an jenem Ort. Und gleichzeitig war ihm niemals vorher so unheimlich zumute gewesen – obwohl ihm dort nichts eigentlich Grauenvolles widerfahren war. » Du wirst wissen, wem es zugedacht ist« , hatte Kronus auf jenem Papierfetzchen geschrieben, das Amos im
Buch der Geister
gefunden und auf der Flucht vor dem wölfischen Bücherjäger gleich wieder verloren hatte. » Bring es ihm und Du wirst unsterblich werden .« Seit er gestern die Geschichte
Von der Frau, die im Brunnen wohnte
gelesen hatte, war er darauf gefasst gewesen, durch Gedankenmagie die Anweisung zu empfangen, wohin er das Buch bringen sollte. Und das war nun allem Anschein nach geschehen, wenngleich auf ganz andere Weise, als er erwartet hatte.
    Klara schlug die Augen auf und ihr Lächeln wurde zum Strahlen. »Amos.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, und in plötzlicher Verlegenheit wusste er nicht, was er tun sollte. Ob er jetzt einfach tun dürfte, was er lieber als alles andere machen wollte. Was er sich, im Traum wie im Wachen, Dutzende Male ausgemalt hatte, seit er in Nürnberg hinter ihr hergerannt war.
    Mein Auserwählter. Worauf wartest du?
    Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er fühlte ein tiefes Bedauern, doch ebenso klar und deutlich spürte er, dass er niemals gegen das Gebot verstoßen würde – die strenge Lebensregel, die Kronus ihm auferlegt hatte. »Eben weil sie uns beide auserwählt haben«, sagte er leise, »müssen wir warten.« Die Hitze wollte ihm in die Wangen steigen, aber er rang alle Gefühle, die in ihm empordrängten, nieder – Begierde, Verlegenheit und die Angst, seiner übergroßen Aufgabe nicht gewachsen zu sein.
    Bevor Kronus mir das Buch anvertraut hat , fuhr er fort, vorsichtshalber wieder in der Gedankensprache, hat er mich angewiesen , wie ein Mönch zu leben .
    Wie ein Mönch? Klaras Lächeln verblasste. Soll das heißen, dass du mich nicht einmal küssen darfst? Mit gerunzelten Brauen sah sie zu ihm empor.
    Amos schüttelte abermals den Kopf, diesmal vor Erstaunen. Ihm war wieder eingefallen, was genau der alte Mann damals zu ihm gesagt hatte. Ich glaube fast , er hat sogar vorausgesehen, dass wir uns … ich meine, dass ich mich in dich … Jetzt wurde ihm doch ziemlich heiß.
    So wie ich mich in dich, Amos . Ihr Lächeln wurde wieder zum Strahlen.