Opus 01 - Das verbotene Buch
angeblich erspüren konnte.
»Entschuldige, Klara«, sagte er schließlich mit tränenheiserer Stimme und rieb sich die Augen. »Wenn ich gewusst hätte, dass das passieren würde … Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.«
Sie lächelte ihn liebevoll an. »Und ich bin dir dankbar, dass ich dich so sehen durfte. Jetzt kenne ich dich besser – und du fühlst dich bestimmt etwas leichter.«
»Ja, das ist wahr. Aber wir halten uns schon zu lange hier auf. Dann also auf nach …« Er unterbrach sich und machte ihr ein Zeichen: Durch den Keller kam jemand mit schlurfenden Schritten herbeigetappt.
Es war der alte Hubertus, und er bekreuzigte sich im Eintreten, so als ob dieses Gewölbe eine geweihte Stätte wäre. »Macht schnell«, sagte er mit gedämpfter Stimme und sah sich bei jedem zweiten Wort nach hinten um. »Heute ist Markttag, und Josepha hat unsere Knechte nach Wunsiedel geschickt und ihnen befohlen, Euch beim Kommandanten anzuzeigen.« Er ließ Kopf und Schultern hängen. »Verzeiht uns, Herr Amos, ich flehe Euch an – verzeiht meiner törichten Alten – es ist nur die Angst, die sie so treulos handeln lässt.«
»Mach dir keine Sorgen, Hubert.« Amos rappelte sich auf und zog Klara mit sich hoch. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, aber er würde den Alten nichts davon sehen lassen. »Wir wollten sowieso gerade aufbrechen. Und bis der Kommandant deine Knechte auch nur angehört hat, sind wir längst über die Grenze nach Böhmen.«
Er bezweifelte, dass Hubertus oder gar der Kommandant von Wunsiedel auf diese Lüge hereinfallen würden. Aber zumindest hatte er nicht ausgeplaudert, wohin sie sich wirklich wenden würden.
»Lasst Euch zum Abschied umarmen, Herr Amos.«
Er trat zu dem Alten und ließ zu, dass Hubert seine Arme um ihn legte – doch dann riss er sich voll Entsetzen von ihm los.
Ernst und ruhig sah der Alte ihn an. »Ich spüre seit Langem, dass mir der Tod in der Brust hockt«, sagte er. »Und nun habe ich Gewissheit: Er wird mich bald holen – und Ihr besitzt noch immer jene Gabe.«
Amos zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln. »Du täuschst dich, Hubert – du wirst bestimmt hundert Jahre alt. Unddas Einzige, was ich besser als viele andere kann, ist rennen. Komm, Klara!«
Er nahm sie bei der Hand und sie rannten durch die rußschwarzen Gewölbe und über die im Feuer zerplatzten Stufen wieder nach oben, in die halb niedergerissene Halle, die keine andere Decke mehr hatte als das Himmelsdach. Klara rief die Füchsin herbei, sie schwang sich in den Sattel und wartete, bis Amos hinter ihr saß und seine Arme um sie geschlungen hatte. Dann preschten sie im Galopp davon und Klaras Haare wehten vor sein Gesicht, sodass er die ganze Welt nur noch durch einen goldenen, nach Klara duftenden Schleier sah. Er wünschte sich, dass er niemals mehr hierher zurückzukehren bräuchte, an diesen Ort der Angst und Düsterkeit, und sie stattdessen immer so weiterreiten könnten, in eine Welt, in der es nur sie beide gäbe. Aber er ahnte, dass sich weder dieser noch jener Wunsch erfüllen würde: Ihre Aufgabe war es,
Das Buch der Geister
zu retten – auch wenn sie noch immer nicht begriffen, nach welchem Plan sie wie Figuren in einem wundersam vielgliedrigen Spielwerk bewegt und umeinander gewirbelt wurden.
Kapitel VIII
1
K
arol saß vorn
auf dem Kutschbock und manchmal leistete ihm Klara für eine Viertel- oder halbe Stunde Gesellschaft. Der Puppenspieler lenkte die Pferde – seine Schecke und ihre Füchsin – und meist hielt er nur schweigsam die Zügel in der Hand und schien Erinnerungen nachzuhängen. Karol war ein Mann von mittleren Jahren, mit feingliedrigen Händen und freundlichen braunen Augen, die von vielerlei Fältchen umkränzt waren. Er erinnerte sie so sehr an ihren Vater, dass es sie immer wieder zu ihm hinzog. Doch dann hielt sie es vor Kummer und Schmerz niemals lange bei ihm aus.
Zu ihrer Linken wie zur Rechten zogen undurchdringliche Wände aus Fichtendickicht an ihnen vorüber. Klara schloss die Augen und dachte beschwörend: Warum mussten sie sterben, Amos? Meine und deine Eltern – warum?
Ich weiß es nicht.
Weil sie sich geweigert haben, uns dem Opus Spiritus als Novizen zuzuführen?
Ich denke andauernd darüber nach, Klara, aber ich komme nicht darauf. Es ergibt einfach keinen Sinn. Oder höchstens einen höllischen und das kann ja nicht sein – dass jene geheime Bruderschaft tatsächlich so teuflisch wäre, wie der Inquisitor Cellari anzunehmen
Weitere Kostenlose Bücher