Opus 01 - Das verbotene Buch
Schilfumhüllung hatte
Das Buch der Geister
die wilde Floßfahrt leidlich überstanden, ebenso seine zwischenzeitliche Entführung durch Johannes. Der Umschlag war mittlerweile zwar mit Schlamm- und Wasserflecken übersät, etliche Blätter waren halb aus der Heftung herausgerissen und mancherlei Wörter vor Nässe zu wunderlichem Gekrakel zerlaufen. Aber das Buch war noch immer vollständig, kein Blatt und keine Zeile fehlten. Von dem Bündel jedoch, das Amos im Schacht unter dem einstigen Mühlhof vorgefunden hatte, waren nur ein paar Fetzen übrig geblieben, und der Inhalt hatte sich wohl vom Felslabyrinth durch den halben Wald bis Wunsiedel verstreut.
Er zog Hemd und Wams an, und die Sachen, die dem jungen Knecht gehört hatten, waren zwar schon ziemlich fadenscheinig,passten ihm aber einigermaßen. Er schob sein Kurzschwert in den Gürtel,
Das Buch der Geister
unter sein Hemd und war reisefertig.
Wenig später traten sie auf den Hof hinaus, mit ihrem bereits gesattelten Pferd, das Klara am Zügel hinter sich herzog. Sie wollte sich gleich in den Sattel schwingen, aber Amos legte ihr seine Hand auf den Unterarm. Lass uns noch rasch dort drüben hinuntersteigen . Er deutete zu dem Gemäuer, das einmal sein und Odas Zuhause gewesen war.
Sie überquerten den Hof und traten zwischen die rußschwarzen Mauern. Erleichtert stellte Amos fest, dass er nicht einmal die Umrisse der Eingangshalle wiedererkannte – hinten fehlte die halbe Stirnwand und die linke Seitenmauer hatte Hubertus fast vollständig abgetragen, um aus den Trümmern das Vogthäuschen zu errichten. Von der Treppe, die Amos damals mit Oda vom Dachgeschoss heruntergerannt war, gab es nur noch ein Dutzend geborstener Stufen an der rechten Wand. Und dort hinten allerdings führte wie früher der viel schmalere Treppenschacht zum Keller hinab.
Amos ging ihr voraus, wortlos, und Klara fragte auch nicht, wohin er sie bringen wollte. Jede einzelne Stufe zum Untergewölbe hinunter war damals im Feuer zersprungen. Ein Netz aus feinen und gröberen Rissen bedeckte Stufe um Stufe und überzog auch die Steinplatten unten im Vorraum wie mit Spinngewebe.
Er ergriff Klaras Hand und sie erwiderte den Druck seiner Finger, immer noch ohne ein Wort. Hier unten gab es nicht einmal mehr Ratten und Asseln, nur Asche und Ruß.
Er führte sie durch alle Kellerräume hindurch bis ganz nach hinten. Dort stand der steinerne Kasten noch genauso wie damals vor der Wand. Und darauf lag der Deckel mit dem eingemeißelten Kreuz.
Hier haben Oda und ich uns damals versteckt.
Sie hat es mir erzählt.
Ich habe ihr den Mund zugehalten, weil sie uns sonst durch ihr Schreien verraten hätte.
Ich weiß.
»Aber sie wird nie wieder schreien, Klara, sie wird nie mehr irgendetwas machen – sie ist tot!« Es brach geradezu aus ihm heraus und er schrie unter krampfhaftem Schluchzen: »Oda ist tot, Klara, Oda ist tot!« Er fiel auf die Knie, schlug seine Stirn gegen den Steinkasten und reckte die gefalteten Hände zum rußschwarzen Gewölbe empor. »Warum nur, oh Gott im Himmel, hast du das geduldet, wo du doch ein lieber Gott sein sollst: Alle, die mir lieb und teuer waren, sind tot! Meine Eltern, meine Schwester – sie sind alle tot! Warum musste Oda sterben, ein unschuldiges Mädchen – warum hast du deinen Purpurkriegern erlaubt, sie abzustechen wie ein Stück Vieh? Und meine Eltern, oh Gott im Himmel, warum hast du erlaubt, dass sie in ihrem eigenen Haus verbrannt sind – warum hast du nicht stattdessen den tausendmal verfluchten Höttsche mit all seinen Unholden zur Hölle geschickt? Warum, oh Gott – warum ist Oda tot?«
So schrie Amos unter Schluchzern und Strömen von Tränen und ließ sich auch von Klara nicht gleich wieder beruhigen.
Du Armer, wie sehr du mir leidtust. Sie kauerte sich neben ihn und umarmte und wiegte ihn. Ich hatte es längst geahnt – in der Nacht, als sie gestorben ist, bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt und spürte in meiner Brust einen furchtbaren Schmerz. Ich habe Oda nur wenige Wochen gekannt, und doch war sie mir gleich so lieb und vertraut, als ob wir schon ein Leben lang Freundinnen wären. Immer werde ich ihr ein liebevolles Andenken bewahren.
So tröstete sie ihn und hielt ihn in ihren Armen fest und ganz allmählich ließen sein Schluchzen und Weinen nach. Amos hätte nie gedacht, dass sich so viele Tränen, so viel Schmerz und Trauer in ihm angestaut hatten – wie in einem jener unterirdischen Gewässer, die er als ganz kleiner Knabe
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