Opus 01 - Das verbotene Buch
selbst nicht schonte. In seinen Mußestunden musizierte er zusammen mit seiner Frau Mathilda, oder er las im Kreis der Familie aus alten Sagenbüchern vor, in denen Riesen und Zwerge, Ritter und Räuber den wackeren Bauern in der Gegend das Leben schwermachten.
Über das ruchlose Treiben seines Bruders hatte Amos’ Vater mehr als einmal geschimpft – auch wenn er stets hinzufügte, dass Heribert durch blanke Not zum Raub- und Glücksritter geworden sei. Denn die Untertanen der Edlen von Hohenstein, die noch ein Menschenalter vorher auf den Äckern und in den Erzminen des Ritterguts gerackert hatten, waren mittlerweile fast samt und sonders in die Städte abgewandert. Als Zinngießer in Wunsiedel oder gar als Handwerker in einer angesehenen Nürnberger Werkstätte konnte man in einem Monat mehr verdienen als durch Plackerei auf dem Acker in einem ganzen Jahr. Auch Amos’ und Odas Eltern hatten oftmals voller Sorge davon gesprochen, dass es immer schwieriger wurde, zuverlässige Leute für Feld und Stall, Mühle und Meierhof zu finden.
Doch selbst wenn ihm noch seine allerletzten Knechte und Mägde davongelaufen wären, ihr Vater hätte sich niemals auf Raub- und Glücksrittertum verlegt – da war sich Amos ganz sicher. Notfalls hätte er eben den Acker mit eigener Hand bestellt, um für seine Familie zu sorgen – aber ganz bestimmt hätte Ferdinand von Hohenstein sich niemals dazu hergegeben, arglose Reisende auf den Landstraßen zu überfallen oder gar wohlhabende Geiseln zu verschleppen, wie es der Onkel schon ein paar Mal gemacht hatte.
So hatte es jedenfalls Hauptmann Höttsche erzählt, der Amos sogar das Verlies unter dem alten Wehrturm gezeigt hatte, wo derRitter seine Gefangenen angeblich einzukerkern pflegte. Ein nicht mehr ganz junger Freiherr musste einmal einen ganzen bitterkalten Winter lang in dem lichtlosen Gewölbe ausharren, bis seine Anverwandten das geforderte Lösegeld bezahlten. Als sich die Kerkertür endlich wieder für ihn öffnete, hatte sich der furchtbar hustende Freiherr nur noch mühsam aus seinem Loch heraus- und den Berg hinabschleppen können, wo die Abgesandten seiner Sippe mit einer Kutsche auf ihn warteten.
Womöglich hatte sich Höttsche diese Geschichte auch nur ausgedacht, um Amos an der Nase herumzuführen. Zuzutrauen war das dem Hauptmann durchaus, so wie Amos es allerdings auch seinem Onkel zutraute, unschuldige Geiseln in Kellerlöchern einzusperren. Natürlich hätte er Heribert einfach fragen können, aber das wollte er nicht. Er ging dem Onkel möglichst aus dem Weg und redete nur dann mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Aber vielleicht würde er ja heute endlich einmal den Mut aufbringen, Kronus zu fragen, ob er zu ihm in den Mühlhof ziehen dürfe. Mindestens ein Dutzend Male hatte Amos in den letzten Wochen diese Bitte schon auf der Zunge gelegen – und immer hatte er sie wieder heruntergeschluckt. Wie kam er schließlich dazu, dem gelehrten Mann mit seinen Sorgen lästig zu fallen? Und doch, sagte sich Amos an diesem Montag Anfang August – heute würde er sich überwinden und Kronus um diesen großen Gefallen bitten. Er würde vorschlagen, dass er sich ja im Stall einrichten könnte, um den weisen Mann so wenig wie möglich zu stören. Denn sämtliche Stuben und Kammern des einstigen Mühlhauses waren über und über mit Kronus’ Büchern und Papieren angefüllt – für einen weiteren Bewohner gab es dort eigentlich keinen Platz.
Während Ritter Heribert Befehl erteilte, das große Tor an der Westseite der Burg zu öffnen, ging Amos auf den schmalen Durchlass im östlichen Burgwall zu. Durch diesen Zugang konnte man sich nur zu Fuß hindurchzwängen – schon für ein Pferd wardie Bresche in der Mauer zu eng. Und ohnehin war der Pfad, der dahinter den Burghügel hinabführte, so halsbrecherisch steil, dass nur geübte Kletterer ihn bewältigen konnten.
Eben als er an der Wachstube vorbeikam, flog die Tür auf und Hauptmann Höttsche trat hinaus. Auch er war bereits in voller Rüstung, das Schwert umgegürtet, nur den Helm hielt er noch in der Hand. Blutrot leuchtete das Narben-X auf seiner Stirn.
»Nun, junger Herr, Ihr fragt Euch sicherlich, wo ich mir diese Verletzung zugezogen habe.« Mit breitem Grinsen tippte sich Höttsche gegen die Stirn. »Damit Ihr nicht länger rätseln müsst, will ich Euch anvertrauen, was damals wirklich passiert ist.«
Gegen seinen Willen musste Amos lachen. »Also raus mit der Wahrheit, Hauptmann.«
Höttsche
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