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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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und ein winziger Küchenwinkel, wo Amos ihm zuweilen ein Mahl zubereitete. Außerdem zwei weitere Dachkammern, die Wände so schräg, dass man kaum darin stehen konnte, und ohnehin alles mit Büchern, Truhen voller Papiere und unförmigen Bündeln vollgeräumt.
    Mit einem mehr als mulmigen Gefühl pochte Amos gegen die Schlafkammertür. Vielleicht hatte der alte Mann ja ganz einfach verschlafen? Das war allerdings noch nie vorgekommen, Kronus war jedes Mal längst auf den Beinen, wenn Amos frühmorgens bei ihm eintraf. Aber möglicherweise war Kronus erkrankt, oder erfühlte sich zu matt, um aufzustehen – schließlich war er bereits über sechzig Jahre alt. Doch auf sein Klopfen bekam Amos wiederum keine Antwort. Als er die Tür leise öffnete, fand er die Schlafkammer leer, die Decke auf dem Strohlager säuberlich zusammengefaltet – offenbar hatte Kronus letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Jedenfalls nicht hier.
    Die Bücherjäger … Eisiges Entsetzen erfasste Amos. Konnte es sein, dass sie Kronus in seinem Versteck aufgespürt und mitsamt seinem Manuskript fortgeschleppt hatten – in die Folterkeller des Bücherzensors und der heiligen Inquisition?
    Oh gütiger Gott, lass es nicht zu, dachte Amos. Aber warum sonst wäre nicht nur der alte Mann selbst, sondern auch sein Manuskript verschwunden,
Das Buch der Geister
, von dem sonst immer zumindest einige Blätter auf seinem Pult lagen?
    Mit weichen Knien hastete Amos die schmale Treppe wieder hinab, dann unten durch die Stube und zurück in den Hof. Er lief zum Gemüsegarten, warf einen Blick über den Zaun – auch dort war niemand. Aber was hätte Kronus zwischen Kräuterbeeten und Kletterbohnen auch beginnen sollen – frühmorgens, kaum dass die Sonne aufgegangen war? Um den Garten kümmerte er sich sowieso nie – »meine Beete sind aus Büttenpapier«, hatte er einmal im Scherz zu Amos gesagt, »meine Rüben aus Tinte und meine Bohnen aus Druckerblei.« Für den Garten war Amos zuständig, genauso wie für das Ausmisten des Stalls – Kronus ließ den Rappen und den Braunen lediglich morgens durch die hintere Stalltür hinaus auf die Weide und füllte ihnen abends die Krippe mit Hafer. Um zu ihrer Wiese zu gelangen, mussten die Pferde den Gründleinsbach auf einer wackligen Holzbrücke überqueren, und obwohl die Weide nicht eingezäunt war und Kronus sie niemals anpflockte, kehrten sie immer von sich aus in ihren Stall zurück.
    Dort standen sie auch heute, als Amos in ihre baufällige Behausung gestürzt kam, und begrüßten ihn schnaubend. »Na, ihr wisst wohl auch nicht …«, begann Amos und unterbrach sich mitten im Satz.
    Die Hintertür des Stalls war nur angelehnt, und von draußen war das Gurgeln des Gründleinsbachs zu hören, mit Satzfetzen vermischt. »… so geschwind wie überhaupt …«, verstand Amos, »… sicherstellen, dass es in die richtigen Hände …« Es war die Stimme von Kronus, er hatte sie sofort erkannt, auch wenn sie verzerrt klang – der alte Mann schrie mit aller Kraft gegen das Tosen des Gewässers an. Aber mit wem sprach er überhaupt?
    Amos schämte sich sehr für seine Neugierde, doch sie war stärker als er. Er musste einfach erfahren, was da draußen vorging. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür, spähte durch den Spalt. Dabei hätte er stampfen können, so laut er nur wollte – das Lärmen des Wassers, das an dieser Stelle pfeilschnell dahinschoss, hätte ohnehin alles übertönt.
    Auf dem Steg über dem Gründleinsbach stand Kronus im Gespräch mit einem jungen Mann. Der nahm gerade eben ein schmales Manuskript entgegen, das in helles, fast weißes Lammleder gebunden, mit roter Schnur umwickelt und mit einem honiggelben Siegel verschlossen war. An den Brückenpfeiler gebunden stand ein schneeweißes Pferd von edlem Aussehen hinter dem Jüngling, der zweifellos ein Kurier war.
    Der Anblick schnitt Amos ins Herz. Kronus lächelte dem Boten zu und klopfte ihm zum Abschied leicht auf den Arm. Aufmerksam sah er dann zu, wie der junge Mann das Buch in die Satteltasche schob und sich auf sein Pferd schwang. Er wendete seinen Schimmel und hob die Hand zum Abschiedsgruß, während er bereits schnell wie der Wind davonstob. Zwischen Wiesen und Buschwerk schlängelte sich der Weg dem Tannenholz entgegen, und nur wenige Momente später hatte der Wald den Boten verschluckt. Kronus aber blieb noch auf der Brücke stehen, die unter der Gewalt des vorüberdonnernden Gewässers erzitterte, und sah dem längst verschwundenen

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