Opus 01 - Das verbotene Buch
bei Weitem nicht genug. Und weißt du, warum das so wäre?«
»Oh ja«, sagte Amos, »das weiß ich wohl, Herr: weil kaum jemand diese Bücher lesen könnte. Ganz gleich, wie viele Exemplare Ihr bei Koberger davon drucken lassen würdet.«
Der alte Mann trat nahe zu ihm und sah ihn mit seinem heiteren Lächeln an. »Du bist noch scharfsinniger, als ich dachte, Junge. Ja, du hast es ganz genau erfasst: Um diese uralten Bücher verstehen zu können, muss man die untergegangenen Sprachen gelernt und die Werke der alten Weisen, Erzähler und Magier studiert haben – über Jahre und Jahrzehnte, ein halbes Leben lang. Doch dazu waren schon immer nur wenige gelehrte Männer imstande, und deren Zeit beginnt ebenso abzulaufen wie die der Klöster und Ritterburgen. Stattdessen bricht nun die Ära der Vielen und Eiligen an, das Zeitalter der Handwerker und Kaufleute. Für sie alle habe ich mein Leben der Aufgabe gewidmet, die Essenz der wertvollsten mystischen und magischen Schriften, Mythen und Epen in meinem
Buch der Geister
zu destillieren. Denn um dieses Buch in sich aufnehmen zu können, braucht man kein Griechisch und kein Hebräisch mehr zu verstehen, und dafür braucht man auch weder die Alchimisten noch die ägyptischen oder jüdischen Geheimschriften studiert zu haben. Um
Das Buch der Geister
zu verstehen, reicht es aus, wenn man mit dem Kopf und mit dem Herzen zu lesen gelernt hat.«
Er legte Amos seine Hände auf die Schultern. »Wenn
Das Buch der Geister
erst einmal gedruckt und im ganzen Land verbreitet ist«, sagte er, »haben die Bücherjäger den Kampf endgültig verloren.Dann können kein Zensor und kein Inquisitor, kein Kaiser und kein Kirchenfürst den Menschen jemals wieder das Wissen und die Weisheit nehmen, die ihnen mit dem
Buch der Geister
zugeflossen sind. Wenn der Boden einmal aus dem Eimer herausgeschlagen worden ist, kann niemand das hinausgeronnene Wasser wieder auffangen – selbst dann nicht, wenn er alle Macht auf Erden besitzt.«
Der alte Mann zog Amos an sich und umarmte ihn zum Abschied. Flüchtig und federleicht. »Nun geh und lass mich allein, Junge. Denn noch ist meine Arbeit nicht beendet, und ich spüre, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt.«
Kapitel II
1
B
ereits vor Sonnenaufgang
war auf Burg Hohenstein alles auf den Beinen. Amos sowieso, denn es war wieder ein Montag, und er wollte mit dem ersten Taglicht drüben beim Mühlhof sein. Aber auch Ritter Heribert stapfte bereits im Burgsaal umher, gestiefelt und in voller Rüstung, und spornte seine Männer an, Schüsseln und Krüge rasch zu leeren. »Auf geht’s, ihr Faulpelze und Vielfraße – jetzt zeigen wir den Böhmischen, wie fränkisches Eisen schmeckt!«
Zwischen dem Fürstentum Brandenburg-Bayreuth, zu dem das Kirchenlamitzer Land gehörte, und dem nahen Königreich Böhmen herrschte zwar seit vielen Jahren wieder offiziell Friede. Aber seit die Böhmen vor bald drei Jahrzehnten im bayerischen Fürstenkrieg gegen die Franken gefochten und 1462 sogar Wunsiedel belagert hatten, waren die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarvölkern vergiftet. An der Grenze kam es immer wieder zu Übergriffen und Scharmützeln, und nicht selten steckten Heribert von Hohenstein und seinesgleichen dahinter, die als Kriegsherren auf eigene Rechnung Dörfer und Gehöfte auf der böhmischen Seite überfielen.
Als Amos nach dem Tod seiner Eltern notgedrungen zu Onkel Heribert ziehen musste, hatte er anfangs geglaubt, dass er auf Burg Hohenstein unmöglich leben könnte. Mit Hauptmann Höttsche und drei Dutzend rauer Kriegsgesellen führte der Onkel ein Glücks- und Raubritterleben, bei dem sich alles um Kriegszüge und Saufgelage drehte. So ähnlich sich Heribert und Amos’ Vater Ferdinand rein äußerlich auch waren – in ihrem Temperament und ihren Vorlieben konnten zwei Brüder kaum unterschiedlicher sein. Ferdinand von Hohenstein hatte den Krieg verabscheut und auch an der Jagd wenig Freude gefunden. Sein ganzer Stolz war die Landwirtschaft gewesen, und auf dem Markt in Wunsiedel hatte Amos oftmals sagen gehört, dass Gutsherr von Hohenstein als Ackerbauer genauso wie als Viehzüchter gesegneteHände habe. Korn und Hafer wuchsen auf seinen Äckern üppiger als in den Nachbargehöften und auf seinen Wiesen weideten mehr Rinder als irgendwo sonst im Fichtelgebirge. Auch bei seinen Knechten und Mägden war Ferdinand von Hohenstein beliebt gewesen – er galt als gerechter Herr, der für seine Leute sorgte und bei der Arbeit auch sich
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