Opus 01 - Das verbotene Buch
denn, Junge?« Die Stimme des alten Gelehrten klang schauerlich verzerrt zu ihm empor. »Ich habe doch gesagt, dass ich dir noch etwas zeigen will.«
»Dort unten, Herr?« Amos ging neben dem Bodenloch in die Hocke und spähte hinab. In dem Loch war es stockfinster, aber er hörte geschäftige Geräusche, und gleich darauf flammte eine Fackel auf.
»Ja, wo denn sonst?«
Jetzt konnte er auch Kronus erkennen: Der alte Mann stand einige Schritte unter ihm in der Erde, hatte seinen Kopf weit zurückgelegt und sah erwartungsvoll zu ihm hinauf. In der linken Hand hielt er die Fackel, von der eine weiße, leise fauchende Flamme aufstieg.
»Aber wie komme ich zu Euch hinab?« Der Schacht war mindestens drei Meter tief.
»Du hast doch gesehen, wie ich den Aufzug in Betrieb gesetzt habe. Dreh einfach den Schlüssel zurück, dann zieht die Kettenwinde ihn wieder zu dir hoch.« Kronus machte einen Schritt rückwärts und verschwand aus Amos’ Gesichtsfeld.
Nur die zuckende Flamme und sein im Erdloch tanzender Schatten waren von oben noch zu sehen. Da erst wurde Amos klar, dass es dort unten sehr viel mehr als nur einen senkrechten Schacht geben musste, in den man sich – oder einen ungebetenen Besucher – mithilfe der Falltür hinabkatapultieren konnte. Offenbar war es der Zugang zu einem unterirdischen Tunnel, der weiß der Teufel wohin führte.
Amos richtete sich wieder auf. Argwöhnisch schaute er den vergoldeten Mistelzweig an, der mit seinem gezackten Ende im linken Auge des Totenkopfs steckte. Ein Schlüssel, hatte Kronus gesagt. Er umfasste das mit Blättern und Zweigen geschmückte Ende und drehte es behutsam nach rechts.
Mit schaurigem Ächzen setzte sich unter ihm ein Räderwerk in Bewegung. Ketten knirschten, Seile stöhnten – und im nächsten Moment kam die Falltür wieder emporgeschwankt und verschloss das Loch im Boden. Der Mechanismus verstummte. Bis auf das ferne Tosen des Gründleinsbachs und Amos’ rasenden Herzschlag war kein Laut mehr zu hören.
Prüfend setzte er einen Fuß auf die Bodenplatte, dann den zweiten. Wie er es vorhin bei Kronus gesehen hatte, beugte er sich vor, drehte den Schlüssel neuerlich nach links – und sauste, die Arme emporgereckt, zu Kronus in die Unterwelt hinab.
»Gut so«, sagte der alte Mann. »Merke dir alles, was du heute gesehen und gehört hast. Diese unterirdische Apparatur hier wollte ich dir zeigen, damit du siehst, wie sehr ich dir vertraue, und damit du mir ebenso vertraust.« Er wandte sich um und lief behände einen unterirdischen Gang entlang. Amos beeilte sich, ihm zu folgen. »Dieser Tunnel«, sagte Kronus, »verläuft unter dem Gründleinsbach hindurch. Auf der anderen Seite, im Buschwerk verborgen, führt ein zweiter Schacht wieder zur Erdoberfläche hinauf.« Nachdem er noch einige Dutzend Schritte getan hatte, blieb er stehen und reckte seinen Arm mit der Fackel empor. »Hier ist der Ausstieg – mit einer einfachen Strickleiter, siehst du?«
»Ja, Herr«, antwortete Amos. Sie standen eng nebeneinander zwischen den glitschig feuchten Felswänden. Hoch über ihnen sickerte durch schmale Ritzen ein wenig Licht zu ihnen hinab. »Aber Ihr habt mir diesen Gang doch nicht nur deshalb gezeigt, um mein Vertrauen zu Euch zu stärken?«
Kronus nickte lächelnd. »Nicht nur«, räumte er ein. »Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem es dir nützlich sein wird, von diesem Geheimgang zu wissen. Außerdem kommt mir dieser Tunnel, der von meiner engen Einsiedelei hinaus in die weite Welt führt, seit jeher wie ein Sinnbild vor. Aber gehen wir doch zurück«, unterbrach er sich, »hier unten ist es feucht und kalt. In meinem Alter spürt man bei solcher Witterung eine Vorahnung des eigenen Grabes.«
Erst als sie beide wieder oben in der Schreibstube waren, kam Kronus noch einmal auf das Sinnbild zurück. »Eines schönen Tages werden die Bücherjäger mein Versteck aufspüren und sich mit furchtbarer Gründlichkeit über meine Bibliothek hermachen«, sagte er. »Das weiß ich seit Langem, aber selbst wenn ich eineMöglichkeit gefunden hätte, meine Bücher dauerhaft vor ihnen zu verstecken – es wäre nicht genug. Verstehst du?«
Amos schüttelte den Kopf.
»Sogar wenn es mir glücken würde«, fuhr Kronus fort, »alle Bücher aus meiner Bibliothek hinter dem Rücken des Zensors drucken und in Hunderten Exemplaren in der ganzen Welt verteilen zu lassen, sodass die Bücherjäger sie niemals mehr einsammeln und zerstören könnten – auch dann wäre es
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