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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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schaute einen Moment lang sinnend an ihm vorbei. »Da war dieser furchtbare Rote Ritter«, sagte er dann, »ein Hüne von sieben Nürnberger Werkschuh Scheitelhöhe, der unglücklicherweise auf der Seite der Osmanen focht – damals in der Schlacht bei Warna.«
    Amos war sich ziemlich sicher, dass Höttsche noch nicht einmal das Licht dieser Welt erblickt haben konnte, als die Kreuzfahrer bei Warna gegen die Türken untergegangen waren. Doch er hütete sich, den Hauptmann zu unterbrechen.
    »Der Rote Ritter«, fuhr Höttsche fort, »war ein berüchtigter Säbelkämpfer, aber gegen mein Schwert kam er nicht an. Eine gute Weile hatten wir schon gefochten, als er seinen Säbel plötzlich sinken ließ. ›Lass uns wie Männer kämpfen, Ungläubiger‹, schlug er vor, ›ohne Schwert oder Säbel, nur mit unseren Händen und Herzen.‹ Der Vorschlag gefiel mir und so ließen wir uns von unseren Knappen aus den Rüstungen schälen. Und während um uns herum weiterhin Schwerter auf Säbel, Speere auf Schilde prallten, gingen der Rote und ich mit den Fäusten aufeinander los.«
    Auf der anderen Burgseite wurde bereits rasselnd das Burgtor heruntergelassen. »Höttsche, wo bleibst du?«, brüllte der Onkel, und der Hauptmann verfiel in erzählerischen Galopp.
    »Also kurz und gut«, sagte er so schnell, dass ihm die Wörter fast aneinanderstießen, »im Faust- und Ringkampf war mir der Rote über. Das hätte ich mir auch vorher denken können, denn hätte er sonst vorgeschlagen, die Waffen zu wechseln? Nicht lange jedenfalls und ich lag wie ein Maikäfer am Boden. Der Rote stand neben mir, und ich rief ihm japsend zu: ›Halt ein, ich ergeb mich.‹ Doch da hob er ungerührt seinen Stiefel, an dem er unter der Sohle angeschmiedet ein stählernes Kreuz trug – und drückte mir das Eisen in die Stirn.« Höttsches Grinsen wurde noch breiter. »Hier, seht nur, junger Herr – dieses Narben-X hat mir damals der Rote Ritter zugefügt.«
    Mit der flachen Hand schlug sich Höttsche gegen die Stirn, dann stülpte er sich den Helm über seinen gewaltigen Schädel. »Und seitdem hoffe ich jedes Mal, wenn ich mit deinem Herrn Onkel in den Kampf ziehe, dass mir der Rote Ritter noch einmal über den Weg läuft.« Er hieb Amos mit dem eisernen Handschuh auf die Schulter und schepperte quer über den Burghof davon.
    Amos sah ihm hinterher und rieb sich geistesabwesend die Schulter. Das Dumme war, dass er Höttsche genauso wie den Onkel trotz allem ein wenig mochte. Beide waren skrupellose Ungeheuer, aber der Onkel sah nun einmal wie eine zerfledderte Ausgabe von Amos’ Vater aus, und Höttsche … Wie könnte man jemanden hassen, der ein so leidenschaftlicher und fantasievoller Erzähler war?
2
    A
ls Amos an diesem Morgen
auf Kronus’ Gehöft eintraf, fand er die Haustür weit offen und die Schreibstube leer. Im ersten Erschrecken wollte er nach dem Gelehrten rufen, doch dann schien es ihm klüger, sich nicht gleich bemerkbar zu machen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
    Auf dem Pult standen und lagen die vertrauten Dinge – Feder und Tintenfässchen, das Pentagramm aus getriebenem Silber, der Totenkopf, daneben der vergoldete Mistelzweig. Aber weit und breit kein Manuskript.
    Die Falltür im Boden war verschlossen. Nur ein sehr geübtes Auge konnte den kreisrunden Umriss in der Maserung der Dielenbretter erspähen – selbst Amos, der ja wusste, was und wo er suchen musste, hatte Mühe, die kreisrunde Platte wiederzufinden, mit der sie vor einigen Wochen in die Unterwelt hinabgefahren waren. Doch dort unten war Kronus heute offenbar nicht.
    Aber wo sonst? Niemals zuvor hatte Amos das Haus in dieser Weise vorgefunden – die Tür offen, die Stube verwaist. Er ging zur hinteren Tür, klopfte zaghaft an, drückte sein Ohr dagegen. Doch außer dem Pulsieren seines eigenen Blutes hörte er nichts, und als er die Tür aufzog, seinen Kopf durch den Spalt steckte, fand er auch das Hinterzimmer leer. Unter dem Fenster toste der Gründleinsbach vorbei. Schatten flogen träge im Düstern umher. Von den Büchern in Schränken und Regalen ging ein schwerer Geruch aus, fast als ob es lederhäutige Urzeittiere wären.
    Rasch drückte er die Tür wieder zu und wandte sich zu der schmalen Seitentür, hinter der die steile Stiege ins Dachgeschoss führte. Die Stufen knarrten unter seinen Tritten, obwohl er auf Zehenspitzen ging. Er kam sich wie ein Eindringling vor, denn hier oben waren Kronus’ persönliche Gemächer – seine Schlafkammer

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