Opus 01 - Das verbotene Buch
zu Mulhardt. »Da ich ohnehin hochgehe, kann ich sie auch gleich für Euch mitnehmen.«
Der Registraturbeamte nickte erfreut. »Dein Eifer ist lobenswert. Warte eine Minute, ich habe in der Tat noch einiges für die Befreiung.«
Als Mulhardt kurz darauf zurückkehrte, trug er einen ganzen Turm dickleibiger Bücher vor sich her. »Na, wenn unserem Storch da mal keine Stelze wegknickt«, kommentierte Doring, während der Registraturbeamte Hannes den Stapel auflud.
Unter dem Gewicht ging der Hilfsschreiber tatsächlich fast in die Knie. Aber ehe es sich Mulhardt anders überlegen konnte,lahmte er bereits emsig der Treppe am hinteren Ende der Halle entgegen. Erst auf der Plattform im ersten Obergeschoss, wo die beiden Männer ihn nicht mehr sehen konnten, legte er eine kleine Pause ein. Er setzte den Stapel behutsam auf einem Mauervorsprung ab und wartete einen Moment, bis er sich verschnauft hatte. Dabei spähte er nach allen Seiten, um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete. Doch um diese frühe Morgenstunde waren selbst die eifrigsten Beamten und Schreiber größtenteils noch zu Hause oder machten sich gerade erst auf den Weg.
Sofern sie nicht durch eine mysteriöse Erkrankung daran gehindert wurden.
Hannes ließ sein Bündel von der Schulter gleiten. Insgesamt sieben Schriftstücke hatte ihm Mulhardt mitgegeben. Er fischte das zuunterst liegende behutsam heraus und ließ es in seinem Bündel verschwinden. Als er kurz darauf im zweiten Stock ein halbes Dutzend Manuskripte ablieferte, stöhnte der zuständige Beamte auf: »Warum nicht gleich einen ganzen Sack voll? Als ob ich nicht schon genug Arbeit hätte! Wie heißt du überhaupt?«
»Hilfsschreiber Hannes Mergelin, Herr. Ich wurde Euch vorläufig zugeteilt. Diese Werke sollt Ihr befreien.«
»Na, meinetwegen. Ich bin Tibur Albsam, diensthabender Befreiungsbeamter. Leg das Zeug da drüben ab. Und dann mach dich gleich an die Arbeit – die neuen Manuskripte müssen erst einmal im Befreiungsbuch verzeichnet werden.«
Hannes lächelte verstohlen. Sorgsam trug er alle sechs Schriftstücke in der dafür vorgesehenen Kladde ein.
4
A
ls dem Befreiungsbeamten
endlich kein weiterer Dienst mehr einfiel, den der Hilfsschreiber Mergelin unbedingt noch heute erledigen musste, brach vor den Fenstern der Hohen Zensurbehörde bereits die Dämmerung herein. Den ganzen Tag überhatte Hannes Befreiungsbriefe schreiben müssen, mit denen der kaiserliche Zensor Schriftstücke aller Art für Druck und Verkauf freigab – von Flugzetteln, auf denen reisende Chirurgen ihre Dienste anpriesen, bis zu dickleibigen Fantastereien, in denen von Mondreisen auf Flugdrachen oder von heldenmutigen Rittern die Rede war.
Hannes warf sich sein Bündel über, verneigte sich zum Abschied und drückte sich zur Tür hinaus. Im Verlauf des Tages war ihm mehr als einmal fast das Herz stehen geblieben – vor Angst, dass Albsam oder einer der anderen Beamten, die sich in der Befreiungsabteilung zu schaffen machten, ihn nach dem unterschlagenen Manuskript fragen könnten. Aber noch sehr viel grässlicher fand Hannes, dass er das verfluchte Geisterbuch nun abermals mit sich nehmen musste.
Wieder in meine Kammer? Kommt nicht infrage, dachte er, während er die Treppe so hastig abwärtsschnellte, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.
Er wollte das grässliche Buch in seinem Bündel so rasch wie irgend möglich loswerden – nichts anderes zählte jetzt. Auf gar keinen Fall wollte er es noch einmal über Nacht beherbergen. Sonst würde er wiederum kein Auge zutun, aus dem Buch würde es zischeln und züngeln, und womöglich würde er am Ende doch noch seine Selbstbeherrschung verlieren und den Lockrufen erliegen: »… Geister, Hannes, lies schon, Geister, Hannes, lies …« Aber so weit würde es nicht kommen, dafür würde er nun unverzüglich sorgen. Gegen seine Gewohnheit ließ Hannes die Liebfrauenkirche rechts liegen und ging geradewegs zur Tuchmachergasse, wo seines Wissens der Unterzensor Skythis wohnte.
Ist er wirklich krank, so muss er auch zu Hause sein, sagte sich Hannes. Und ist er nicht daheim, so helfe mir Gott. Denn mit dem dämonischen Schriftwerk will und kann ich keine zweite Nacht mehr meine Kammer teilen.
In der Tuchmachergasse ging er langsam von Tür zu Tür, ließ sich weder von Pförtnern noch von sonstigen Respektspersoneneinschüchtern und studierte überall die Namensschilder. Doch einen Hinweis, dass der Herr Unterzensor hier irgendwo wohnen könnte, suchte er
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