Opus 01 - Das verbotene Buch
Geister
gelesen – und die Gesichte und Gefühle, die ihn nun piesackten, kamen von dem Gift, das ihn an Geist und Seele bereits versehrte? Nein, Unsinn, sagte sich Hannes dann wieder. Auch wenn er keine genaue Erinnerung an die Ereignisse der letzten Nacht besaß – dass er in dem Machwerk gelesen hatte, war ganz und gar ausgeschlossen.
Stunde um Stunde musste Hannes in dieser Weise ausharren.Erst nach acht Uhr trafen allmählich die Kirchenbeamten, ihre Schreiber und sonstige Bedienstete ein. In prachtvoller Robe oder einfacher schwarzer Kutte durchmaßen sie die Halle, um zu der breiten Treppe an der hinteren Stirnseite zu gelangen – oder zu der mit Eisen beschlagenen Tür rechter Hand, die zu den Verliesen führen musste. Aufmerksam musterte Hannes jeden höherrangigen Kirchenmann, der vorn durch das Portal trat, aber Cellari war nicht dabei.
Gegen halb zehn führten zwei Kirchenknechte eine noch junge Frau mit wirrem, rabenschwarzem Haar herein. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt, das ärmliche Gewand am Ärmel zerrissen, ihr Gesicht zerschlagen und blutüberströmt. Ein Auge war gänzlich zugeschwollen, mit dem zweiten musterte sie so angstvoll die Wand- und Deckenbilder, wie es sich Hannes vorhin vorgestellt hatte.
Die Knechte zerrten sie stumm auf die Eisentür zu und auch die Frau sprach kein einziges Wort. Doch im Gehen wandte sie sich zu Hannes um und schaute ihn lange und durchdringend an. Ihr Blick hatte nichts Flehendes und in ihrem schmalen, fein geschnittenen Gesicht bemerkte er auch keinerlei Anzeichen von Reue oder, im Gegenteil, von Verstocktheit. Sie sah ihn einfach nur starr an und ließ sich dabei zur Eisentür hin weiterzerren. Sie weiß, dass sie nicht mehr lebendig hier herauskommt, durchfuhr es Hannes und fast im selben Moment nickte die junge Ketzerin ihm zu. Nur einen Herzschlag später wurde sie durch jene Tür gezogen und während Hannes noch überlegte, was da gerade Sonderbares passiert war, wurde er von hinten grob am Arm gefasst.
»Heda, Bursche – unser Herr hat dich etwas gefragt.«
Er fuhr herum und wäre beinahe ins Straucheln geraten. »Wer wagt es …«, stammelte er und biss sich auf die Unterlippe: Vor ihm stand Leo Cellari.
»Ist es denn ein Wagnis, dich anzusprechen, mein Sohn?« Aufmerksam sah ihn der hochgewachsene Dominikaner an. Cellari war bereits über sechzig, sein Haupthaar gelichtet und silbergrau.Doch sein federnder Gang, die schlanke Figur und der durchdringende Blick seiner bernsteinbraunen Augen ließen ihn weit jünger wirken. Er trug das schwarze Gewand seines Ordens, allerdings aus schimmernder Seide und mit schneeweißem Untergewand, das ihm aus den Ärmeln und unter dem Kragen hervorsah und bei jeder Bewegung leise rauschte. Am Ringfinger seiner rechten Hand prangte ein goldener Ring mit einem Rubinstein, der die Form einer Träne aufwies. Um den Hals trug er an einer Silberkette ein gewaltiges Kruzifix, das gleichfalls aus Silber geschmiedet und mit Kaskaden glitzernder Edelsteine übersät war.
»Verzeiht, Herr«, murmelte Hannes. »Ich war in Gedanken. Der Unterzensor Skythis schickt mich zu Euch.« Er wollte sein Bündel von der Schulter nehmen, aber das ging nicht – noch immer hielt ihn Cellaris Gehilfe am Arm fest.
»Lass ihn, Alex«, sagte der Kirchenbeamte, ohne seinen Blick von Hannes zu wenden. Mit der gebogenen Nase, den starren, gelbbraunen Augen erinnerte er an einen Falken, der seine Beute fixiert, ehe er tödlich hinabstößt.
Alexius neigte kaum merklich den Kopf und ließ Hannes’ Ellbogen los. Mit einer geschmeidigen Bewegung wich er zurück und verharrte einen halben Schritt hinter Cellari so reglos, als ob er aus Stein gemeißelt wäre.
Hannes hatte währenddessen sein Bündel heruntergenommen und
Das Buch der Geister
mitsamt der Nachricht von Skythis herausgezogen. »Der Unterzensor hat mir befohlen, Euch diese beiden Schriftstücke persönlich zu überreichen.«
Der Dominikaner schaute auf das verschnürte Buch, das Hannes ihm hinhielt, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht zugehört hatte. Starr musterte er die Lettern, die nachlässig oder unbeholfen vorn ins Lammleder gekerbt worden waren.
Das Buch der Geister
stand dort und darunter, sehr viel kleiner, Von Valentin Kronus .
»Valentin …«, ließ sich Cellari vernehmen. Seine Stimme war von so volltönendem Klang, dass sie weithin zu hören war, auchwenn er wie jetzt nur leise vor sich hin sprach. Offenbar durch den erstaunten Tonfall
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