Opus 01 - Das verbotene Buch
ausgesetzt hatte – allerdings nur, um im nächsten Moment desto rasender weiterzuschlagen.
Ich bin sicher, Du freust Dich genauso wie ich, Brüderlein,
fuhr Oda fort.
Aber glaube nur nicht, dass ich Dir damit schon alle Neuigkeiten mitgeteilt hätte. Ich werde mich nämlich nicht allein auf die Reise ins Fichtelgebirge machen. Seit Kurzem habe ich hier in Nürnberg eine gute Freundin, und obwohlsie erst vor zwei Wochen hier im Waisenhaus eingezogen ist, kommt es mir vor, als ob wir uns schon ein Leben lang kennten, ja, als ob sie meine Schwester wäre. Ich will sie Dir aber erst einmal vorstellen, liebster Amos: Ihr Name ist Klara, sie wird in wenigen Wochen ihren sechzehnten Geburtstag begehen und sie hat auf dieser Welt niemanden mehr. Vater und Mutter wurden der Ärmsten durch Meuchelmörder entrissen, nicht anders, als es uns und unseren armen Eltern widerfahren ist. Doch auch bei der Äbtissin, die sie danach unter ihre Fittiche nahm, durfte Klara nicht lange bleiben: Die fromme Frau wurde vor etlichen Wochen von der Inquisition in Gewahrsam genommen – unter welchem Verdacht, weiß Klara bis heute nicht. Als sie die Kirchenknechte anrücken sah, ergriff sie die Flucht und lebte danach auf der Straße, von der Mildtätigkeit barmherziger Mitmenschen, aber wohl auch von kleinen Raub- und Diebeszügen.
Und stell Dir nur vor, Amos: Seit Klara ihr diese Vergehen gebeichtet hat, ist Tante Ulrika außer sich. ›Das Mädchen darf keinen Tag länger als unbedingt nötig unter meinem Dach bleiben‹, so hat sie beschlossen, damit ›diese Diebin mit den grünen Teufelsaugen‹, so hat sie die arme Klara tatsächlich bezeichnet, nicht auch noch die Seelen ihrer kleinen Waisenmädchen so besudeln kann, wie sie das laut Tante Ulrika mit ihrer eigenen Seele bereits getan hat. Deshalb hat sie also schleunigst ein anderes Heim ausgewählt, wohin sie Klara abschieben kann, und jetzt halte Dich fest, liebster Amos: Ihre Wahl ist auf das Töchterasyl zur Heiligen Maria in Wunsiedel gefallen. Und so werden Klara und ich also nächste Woche gemeinsam reisen, zumindest bis Wunsiedel, und von Hohenstein aus können Du und ich sie bestimmt auch in ihrem Marienheim besuchen.
Klara ist der liebste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, natürlich außer unseren armen Eltern und Dir. Sie besitzt nichts auf dieser Welt, abgesehenvon dem vielfach geflickten Kittel, den sie am Leib trägt, und einem zauberhaften Augenstein – und stell Dir nur vor, liebster Bruder, den hat sie mir geschenkt! Ich wollte es lange gar nicht annehmen, aber sie hat mich unter Tränen angefleht. ›Dann schicke ihn eben voraus nach Hohenstein, zu Deinem Bruder‹, hat Klara gebettelt, ›und wenn Du mich von dort aus in Wunsiedel besuchst und ihn dann immer noch nicht behalten willst, nehme ich ihn meinetwegen zurück – aber vorher auf keinen Fall !‹
So habe ich ihr also ihren Willen gelassen und schicke Dir hier auch noch Klaras Augenstein und schließe Dich in meine Arme, geliebter Bruder: Passe auf ihn und auf Dich selbst auf, bis wir uns nächsten Samstag endlich wiedersehen –
Deine dich liebende und küssende Schwester Oda.
Amos las diese letzten Abschnitte wieder und wieder und dabei drehte er den Augenstein zwischen seinen Fingern hin und her. Schließlich zog er das Lederriemchen mit dem zum Dreieck gebogenen Draht hervor, das er seit jenem Zwischenfall in Nürnberg immer bei sich trug. Er schob das blaue Steinoval in die Fassung aus Silberdraht – und mit den eingekerbten Rinnen an den Schmalseiten passte es ganz genau in das Dreieck hinein.
Es war eine unglaubliche Fügung, dachte Amos, dass die grünäugige Diebin gerade in Tante Ulrikas Waisenhaus verschlagen worden war. Und doch verhielt es sich nicht anders – der Augenstein bewies, dass Odas Freundin Klara niemand anderes als das Mädchen von jenem Brunnen war.
Erst als die Stute vom Warten genug hatte und schnaubend weitertrottete, fuhr Amos aus seinen Gedanken auf. Er schob den Brief unter sein Wams, hängte sich das Amulett um den Hals und tastete im Weiterreiten immer wieder danach. Sie hat mir ihren Augenstein geschickt, dachte er und konnte einfach nicht begreifen, wie dieses Wunder möglich geworden war.
Doch zugleich kam es ihm vor, als ob alles sich unweigerlich genauso abspielen musste – als ob Klara und Oda, er selbst und Kronus und wer sonst noch Figuren in einem wundersam vielgliedrigen Spielwerk wären und nach einem Plan bewegt und umeinander gedreht würden,
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