Opus 01 - Das verbotene Buch
aufrappelte, wirkte geradezu aufreizend mit sich selbst zufrieden. Seine beiden Gehilfen, die ihm auf die Füße helfen wollten, wies er lächelnd zurück. Nur flüchtig klopfte er sich den Staub von der Robe, während er bereits zurück zu seiner Kutsche eilte. Desto sorgsamer pflanzte er die Fahne in eine Halterung vorn an der Karosse – so als wäre gerade jetzt der rechte Zeitpunkt dafür gekommen.
»Auf die Pferde, Streiter Christi«, rief er mit wohlklingender Stimme, »wir übernehmen die Burg!«
5
A
mos rannte die enge Wendeltreppe
im Ostturm der Burg hoch. Ganz oben unter dem Turmfirst war sein Lieblingsversteck, ein enger Verschlag mit einer Fensterscharte, die den Blick auf das Tannenholz freigab. Aber dort konnte er sich heute nicht verbergen – heute nicht, durchfuhr es ihn, und vielleicht niemals mehr.
Ein Gefühl, als ob alles zu Ende ginge – als ob die Schreipropheten auf den Marktplätzen doch recht hätten mit ihrem Geheule vom nahen Weltuntergang.
Vor Odas Kammertür blieb er stehen, legte sein Ohr ans Türholz. Doch außer dem Rauschen seines eigenen Bluts hörte er nichts. »Oda?«
Keine Antwort. Er drückte den Türknauf, und als die Tür nicht gleich aufging, warf er sich mit der Schulter dagegen.
»Amos? Was ist denn los?« Schlaftrunken blinzelte ihn Oda von ihrer Bettstatt aus an.
Er rieb sich die Schulter. Honiggelbes Morgenlicht erfüllte Odas Kammer. Für einen kurzen Moment kam er sich töricht vor. Die schwarzen Locken um ihren Kopf herum ausgebreitet, lächelte seine Schwester ihn arglos an. Wie ähnlich sie der Mutter sieht, dachte Amos. Aber für rührselige Erinnerungen war jetztwirklich keine Zeit. Er musste Oda in Sicherheit bringen, nichts anderes zählte.
»Was ist denn?«, wiederholte sie und sah ihn beunruhigt an.
Er kauerte sich neben ihrem Bett hin. Wie nur konnte er ihr begreiflich machen, was passiert war? Er verstand es ja selbst nicht, er wusste nur eines: dass es um Leben und Tod ging, dass sie auf und davon rennen und sich verstecken mussten im finstersten Wald. Und dass er niemals, nie, selbst im tiefsten Traum nicht, den Fehler machen durfte, sein Innerstes zu öffnen. Sein magisches Herz, den inneren Lichtquell, denn gerade darauf lauerte jene Kreatur – aber nein, nichts davon konnte er Oda anvertrauen.
So sah er seine Schwester nur eindringlich an und sagte: »Oda, bitte, höre mir zu. Sag nichts. Vertrau mir einfach: Wir müssen fliehen – jetzt!«
Das »jetzt!« sprang ihm so schrill aus dem Hals, dass Oda zusammenschrak. Sie setzte sich auf, griff nach seiner Hand, wischte sich mit der Linken den Schlaf aus den Augen. »Aber wovor denn?«
»Ich erkläre es dir später – unterwegs«, sagte er, während Oda ihre Decke zurückwarf. Sie war im Nachthemd, daran hatte er nicht gedacht – ihr nonnenhaft strenges Gewand lag säuberlich gefaltet auf dem Schemel vor der Fensterluke. Verlegen wandte er den Blick ab – Oda war längst kein Kind mehr, so wie er selbst auch. »Ich warte draußen«, sagte er, »aber um Himmels willen beeile dich!«
Vor ihrer Tür sprang Amos von einem Fuß auf den anderen. Er hörte sie kramen, hin und her laufen, während die furchtbarsten Angstbilder vor ihm vorüberflackerten: Der Onkel und Höttsche schleppten ihre Geisel mit triumphierendem Grinsen in die Burg. Aber kaum hatte sich das Tor hinter ihnen geschlossen, da begann das albtraumhafte Wesen alles, was auf der Burg lebte, bei lebendigem Leib auszusaufen – ihr inneres Licht, ihr magisches Herz. »Oda!«
»Ich bin ja schon so weit. Aber vielleicht sagst du mir endlich mal …« Sie trat aus der Tür und unterbrach sich mitten im Satz. »Das Amulett, das Silberdreieck – wo hast du das her?« Sie wollte nach dem Augenstein fassen, den er an Klaras Riemen um den Hals trug, aber er wandte sich um, griff nach ihrer Hand, zog sie die Treppe hinab. »Später, Oda, versprochen – ich erkläre dir alles, aber jetzt lass uns gehen!«
Hintereinander hasteten sie die schmalen Stufen hinunter. Der Ostturm befand sich direkt neben dem engen Durchlass, der zum Kletterpfad hinab ins Tannenholz führte. Oda würde nicht besonders erfreut sein, wenn sie diesen Ziegensteig hinunterkraxeln musste, aber es war ihre einzige Chance. Er sah bereits vor sich, wie der Ritter und sein Hauptmann die beiden Wagen, die sie unten auf der Straße erbeutet hatten, auf dem breiteren Reitweg an der Westseite des Burghügels emporführten. In allenfalls einer Viertelstunde mussten sie
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