Opus 01 - Das verbotene Buch
drüben beim Tor sein, die Zugbrücke herunterlassen – und in dem Wagen, der so dröhnend voranrollte, als ob ihm unter der Erde eine ganze Horde stampfender Teufel folgte, saß jener Dämon.
»Hier entlang«, rief Amos, als sie endlich den Turm hinter sich hatten, und zog Oda auf den Durchlass zu. »Runter in den Wald!«
Sie sträubte sich nur noch zaghaft. Glücklicherweise schien auch Oda zu spüren, dass es ihm mit alledem furchtbar ernst war. Doch als er sie draußen auf dem schmalen Pfad weiterziehen wollte, zu der Bruchkante, hinter der es fast senkrecht auf nacktem Fels bergab ging – da riss ihn Oda mit einem Mal heftig zurück.
»Komm schon«, keuchte er, »das sieht schlimmer aus, als …« Er unterbrachte sich mitten im Satz.
Vor ihnen – unter ihnen – bewegte sich ein Heerzug von Kriegern in purpurroten Gewändern auf die Burg zu. Einer hinter dem anderen eilten sie leichtfüßig den Felspfad hinauf, dabei trug die Hälfte von ihnen gewaltige Armbrüste auf dem Rücken und die andere Hälfte noch riesenhaftere Schwerter. Die silbernenHelme auf ihren Köpfen schimmerten in der Sonne, was sie beinahe wie Engel aussehen ließ. Racheengel, dachte Amos. Engel der Verheerung, von denen es in der Bibel hieß, dass sie in einer einzigen Nacht zehntausend Frevler erschlagen konnten.
Aber diese Streiter gehörten nicht zu den himmlischen Heerscharen. Am Schulterriemen trug jeder von ihnen zusätzlich ein Gewehr. Es waren furchterregend bewaffnete Soldaten, genau vierundvierzig an der Zahl. Während Amos hinter Oda zum Durchlass zurückrannte, fiel ihm ein, was Kronus einmal ganz beiläufig bemerkt hatte: »Gefährlicher für
Das Buch der Geister
sind letzten Endes die kaiserlichen Bücherjäger. Aber die schlagkräftigeren Truppen besitzt der Inquisitor – seine Streiter in den purpurroten Uniformen sind erfahren und bestens ausgebildet.«
Oda presste krampfhaft seine Hand. »Was sind das für Soldaten?« Ihre Stimme klang ganz schwach und zittrig – beinahe so wie in jener Nacht vor drei Jahren, an die Amos jetzt auf gar keinen Fall denken wollte. »Ziehen sie gegen den Onkel zu Felde? Nun sag doch endlich was, Amos!«
»Später«, flüsterte er. »Hörst du nicht – vorn am Tor? Wir sitzen in der Falle!«
Gerade in diesem Moment begann sich mit eisernem Kreischen das Falltor auf der Westseite des Burghofs zu senken. Dahinter kamen zollweise zuerst ein dünner Strich blauen Morgenhimmels, dann die Helme und Häupter zahlloser Reiter zum Vorschein – doch da rannten die Geschwister bereits in den Ostturm zurück.
»Nicht nach oben«, flüsterte Amos. Wieder packte er ihre Hand und zog sie tiefer in die Turmstube, zu einer Steinplatte, die weiter hinten in den Boden eingelassen war. Zwei schwere Eisenringe waren daran befestigt und Amos warf sich auf die Knie und begann daran zu zerren und zu ziehen. »Da unten«, keuchte er, »ist ein ganzes Labyrinth aus Kriechgängen.«
Er zerrte noch wilder an den Eisenringen, doch die Platte ließ sich nicht von der Stelle bewegen.
»Kriechgänge?«, wiederholte Oda. Obwohl sie flüsterte, war das Grauen in ihrer Stimme nicht zu überhören. »Da geh ich nicht rein«, flüsterte Oda. Sie war hinter ihm stehen geblieben, und als sich Amos zu ihr umwandte, sah er den breiten Schatten, der von draußen in die Turmstube fiel.
Er sprang auf und stellte sich so vor die Bodenluke, dass ein argloser Betrachter nichts Verdächtiges bemerken konnte. Im nächsten Augenblick trat ein groß gewachsener Mann in purpurrotem Gewand über die Schwelle. Auf seinem Helm tanzte ein ebenso roter Federbusch.
»Fürchtet euch nicht, meine Kinder«, sagte er. »Denn wir sind gekommen, euch von dem Bösen zu erlösen.« Mit heiterem Lächeln kam er auf sie zu. Doch sein Blick blieb wachsam, und die rechte Hand hielt er so, dass er im Nu sein Schwert aus der Scheide reißen konnte. »Fürs Erste müsst ihr hier drinnen bleiben«, fügte er hinzu und sein Lächeln wurde noch strahlender. »Aber seid guten Mutes, meine Kinder – wir werden all jene retten, deren Herzen ohne Falsch sind.«
Unter seinem Helm kräuselte sich schwarzes Haar in feinen Löckchen. Kinn und Wangen trug er bartlos – wie ein Priester, dachte Amos, oder sogar wie ein Mönch.
Der Soldat brachte sie nach oben in Odas Kammer, dort ließ er sie allein. Ihre Tür blieb offen und auch die mit schweren Eisen beschlagene Tür unten zum Burghof ließ der Purpurrote unverriegelt. Aber Amos und Oda hörten, wie er
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