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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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verbracht, den winzigen Felsrand da unten nach Mulden oder etwas breiteren Gesteinszacken abzusuchen, die einem Kletterer Halt bieten konnten. Sehr viele solcher Stellen hatte er allerdings nicht entdeckt.
    Bevor ihm der Mut noch tiefer sinken konnte, würde er jetzt einfach mal loslegen. Er nahm das Seil von der Schulter undschlang das lose Ende um die Zinne neben dem Nordosteck des Turms. Dann warf er das bunte Gebilde aus Knoten und Fetzen über die Brüstung und spähte nach unten – es reichte gerade so bis zum Turmfuß hinab. Oder bis zum Anfang des Abgrunds.
    Oda warf einen ängstlichen Blick in die Tiefe. »Amos, was hast du vor?« Sie fasste nach seinem Arm. »Ich lass dich da nicht runter. Schau doch mal genau hin – wo dein Seil aufhört, fängt ja der Abgrund erst an! Wie stellst du dir das denn vor?«
    »Na ja, ganz einfach«, sagte er und machte eine schlängelnde Armbewegung – den Turm runter und dann immer geradeaus.
    Im Grunde war es wirklich ganz einfach, wenn auch haarsträubend gefährlich: Er würde sich bis zum Fuß des Turms abseilen und von dort aus mit seinen Händen am Grat entlanghangeln. Auf diese Weise müsste er eine Strecke von ungefähr sechzehn Fuß hinter sich bringen – vor der Felswand hängend, mit seinen Fingern in den Grat gekrallt und unter seinen Füßen nichts Festeres als dreihundert Fuß staubig heißer Luft. Unmittelbar zur Rechten des Felsgrats verlief der schmale Saumpfad, der den Durchlass in der Burgmauer mit dem Ziegensteig verband, über den man zum Tannenholz hinabgelangte. Doch im Durchlass würde zweifellos einer der silbern behelmten Soldaten Wache halten, und deshalb konnte sich Amos nicht einfach über den Grat schwingen und den Pfad entlangrennen: Bis der Klettersteig ihm Deckung gäbe, wäre er längst von einem Armbrustpfeil oder einer Kugel durchbohrt.
    Aber gerade deshalb hatte er sich den Plan ja ausgedacht. Mit einem Mal wurde Amos ganz ruhig. Anstelle von Höttsche und seinen Männern hielten heute eben die Purpurkrieger im Durchlass neben dem Turm Wache – doch das war auch schon der ganze Unterschied. Er würde sie alle überlisten. In Gedanken und Träumen hatte er seine Flucht von Burg Hohenstein Dutzende Male durchgespielt. Sein Plan war wagemutig, aber er würde glücken.
    Sanft machte sich Amos von seiner Schwester los. »Sorg dich nicht, Oda. Wenn ich unten bin, mach das Seil wieder ab und versteckees da hinten bei den alten Dachschindeln. In drei Stunden bin ich zurück, dann musst du es wieder festmachen und mir zuwerfen. Bis dahin wird hier bestimmt niemand nach mir suchen, und wenn doch, dann sag einfach, dass ich mich irgendwo in der Burg herumtreibe.« Er breitete die Arme aus. »Aber du siehst es ja selbst – sie kümmern sich überhaupt nicht um uns. Für sie sind wir einfach irgendwelche Kinder.«
    Gerade in diesem Moment meinte er unten im Turm Schritte auf der Treppe zu hören. Aber das hatte er sich bestimmt nur eingebildet – einige Atemzüge lang lauschte er angestrengt, doch nun ließ sich nichts Verdächtiges mehr vernehmen.
    »Also dann, Schwesterchen.« Amos beugte sich über die Brüstung und umfasste mit beiden Händen das Seil. Noch einmal prüfte er, ob der Knoten fest genug war, dann schwang er sich nach draußen. Das Seil ächzte in allen Fasern, aber es hielt.
9
    A
uf Cellaris Befehl hin
trieben seine Soldaten die ganze Räuberschar im großen Saal unten im Palas zusammen. Ihre Schwerter und Gewehre blieben aufgehäuft zurück im Burghof. Bevor die Räuber in der Frühe kapituliert hatten, waren noch drei von ihnen durch Armbrustpfeile verwundet worden. Doch ein heilkundiger Purpurkrieger hatte ihre Verletzungen unterdessen mit Wundpflastern versorgt und Hannes Mergelin fragte sich noch immer, was dies alles zu bedeuten hatte. Welchen Plan der Inquisitor verfolgte – und warum er diesen Plan vor Jan Skythis so beharrlich verbarg.
    Mittag war vorüber. Neben dem Wehrturm hatten Cellaris Soldaten einen Baldachin aufgespannt und auf der Tafel darunter aufgetragen, was Ritter Heriberts Vorratskeller hergab – Dörrfleisch und steinharten Käse, altbackenes Brot und goldgelbes Bier. In scheinbarer Eintracht saßen Cellari und Skythis am Kopfder Tafel, flankiert von fünf päpstlichen Offizieren, die allesamt Federbüsche auf ihren Helmen trugen. Am unteren Tischende saßen wiederum die beiden jungen Dominikaner und der Hilfsschreiber Mergelin.
    Über die gesamte Länge der Tafel hinweg spürte Hannes den Zorn und

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