Opus 01 - Das verbotene Buch
zugedrückt. Trotzdem mussten sie vorsichtig sein – auch wenn von den Wächtern unten im Turm nichts zu hören war. »Kronus ist kein Ketzer«, fuhr er fort. »Er ist ein weiser alter Mann. Ich besuche ihn regelmäßig, er lebt im Mühlhof hinter dem Tannenholz, und wenn er nicht gewesen wäre …« Amos unterbrach sich und schluckte. »Ich liebe und verehre ihn«, sagte er dann. »Und ich bin sicher, dass Valentin Kronus in seinem ganzen Leben niemals etwas Böses getan hat.« Er verstummte abermals und sah seine Schwester beschwörend an.
Oda ließ sich auf den Holzschemel neben ihrem Bett fallen. »Aber wenn er nichts getan hat«, sagte sie, »warum nennen sie ihn dann einen Teufel und was sonst noch?«
Amos hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Das musst du mir glauben.« Er kauerte sich vor sie auf den Boden. »Kronus hat ein Buch geschrieben – aber darüber darf ich eigentlich gar nicht reden.«
»Ein Buch?«, wiederholte Oda. »Also deshalb sind sie hinter ihm her! Weißt du noch, was Vater uns mal über einen Prediger namens Jan Hus erzählt hat? Der hat behauptet, dass man weder Kirche noch Priester braucht, um ein frommer Christ zu sein. Deshalb wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Amos – und bestimmt stehen in dem Buch von deinem Kronus auch solche Ketzereien.«
»Nein, überhaupt nicht«, sagte Amos. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Kronus’ Buch enthält einfach nur Geschichten. Eine davon habe ich sogar schon gelesen.«
Oda sah ihn zweifelnd an. »Und worum ging es in der Geschichte?«
»Na ja, um …« Ihm wurde ein bisschen heiß. »Es ist eine Liebesgeschichte – von einem jungen Ritter und der Prinzessin seiner Träume.«
Seine Schwester machte große Augen. »Du nimmst mich auf den Arm, oder? Dieser alte Mann schreibt Romanzen – und deshalb rückt hier der Inquisitor mit einer ganzen Streitmacht an? Das glaubst du doch selbst nicht.«
Er senkte den Kopf. »Es ist aber so, wie ich es gesagt habe. Das Buch enthält vier Geschichten, weiter nichts. Und wenn du sie gelesen und vollkommen verinnerlicht hast, dann erwachen in dir magische Kräfte.«
Oda verdrehte die Augen. »Ach, du meine Güte.« Sie klatschte in die Hände. »Magische Kräfte, ja?« Seine Schwester sah nun ziemlich verärgert aus. »Also gut, lassen wir das, Brüderchen. Entweder du weißt gar nicht, was in dem Buch steht – oder dieser Kronus hat dir eingeschärft, dass du solchen Unsinn erzählen sollst, wenn man dich danach fragt. Aber lass dir eins gesagt sein, Amos: Wegen diesem alten Kerl und seinem Geschreibsel bringe ich mich nicht in Gefahr.«
»Das sollst du doch auch gar nicht.« Amos wurde immer kribbliger. Anstatt mit Oda herumzustreiten, müsste er längst auf dem Weg zu Kronus sein. Mittag war zwar gerade erst vorbei, aber der Ankündigung des Inquisitors, dass sie Kronus erst morgen früh verhaften würden, war bestimmt nicht zu trauen. Warum sollten Cellari und seine Soldaten noch so lange auf der Burg ausharren, keine fünf Meilen von ihrem Ziel entfernt? Außerdem war der Inquisitor viel zu schlau, um seine Pläne überhaupt öffentlich zu verkünden. Nein, da musste eine weitere Finte dahinterstecken, sagte sich Amos – vielleicht hatte Cellari sogar schon einenTrupp seiner Purpurkrieger losgeschickt, die Kronus überwältigen und zu ihm auf die Burg schleppen sollten. Aber was auch immer der Inquisitor im Schilde führen mochte – er musste ihm zuvorkommen.
»Komm mit«, sagte er zu seiner Schwester, »ich will dir etwas zeigen.« Er sprang auf und fasste sie bei den Händen, aber Oda machte sich schwer wie ein Mehlsack.
»Ich geh da nicht runter«, sagte sie, »in diese Kriechgänge oder wie du das genannt hast.«
Er versuchte, beruhigend zu lächeln. »Das brauchst du auch nicht. Was ich dir zeigen will, ist dort.« Er deutete mit dem Kopf zur Decke ihrer Kammer.
Glücklicherweise ließ sich Oda jetzt zumindest zum Aufstehen bewegen. Sie folgte ihm aus der Kammer und über die Treppe hinauf zu seinem Lieblingsversteck, dem Verschlag unter dem flachen Turmdach, wo er schon unzählige Stunden verbracht hatte – mal mit emsigen Vorbereitungen, dann wieder in Tagträumen und Erinnerungen dämmernd. Mit skeptischem Gesichtsausdruck zwängte sich Oda hinter ihm in das Gelass. Außer einem winzigen Fenster, das aufs Tannenholz hinausging, gab es hier nur wenig zu bewundern – jedenfalls für den ungeübten Blick.
»Schau hier«, sagte Amos. »Und hier.« Hinter Balken
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