Opus 01 - Das verbotene Buch
und losen Bodenplatten holte er einige seiner heimlich gehorteten Schätze hervor – eine rostige Streitaxt und einen Krummdolch, ein halbes Dutzend Kerzen und schließlich seine größte Kostbarkeit: ein zusammengerolltes Seil. »Durch die Luken«, sagte er und deutete auf die schmale Scharte, »passe ich schon seit vorletztem Jahr nicht mehr durch. Aber das Seil ist mittlerweile lang genug.«
Es war aus bunten Fetzen zusammengezwirnt und sah nicht allzu vertraueneinflößend aus. Von Anfang an, seit er bei Onkel Heribert wohnte, hatte er Tau- und Tuchfetzen gesammelt, wo immer sich ihm eine Gelegenheit bot. Er hatte sie in sein Versteck gebracht und in einsamen Stunden beharrlich ineinandergedreht und miteinander verknotet. Es war wie ein Versprechen gewesen,das er sich selbst gegeben und mit jedem hinzugefügten Fetzen erneuert hatte: dass er nicht wie der Onkel und seine Männer werden würde. Dass er von hier wieder fortgehen würde, sowie sich ihm auch nur die kleinste Gelegenheit bot. Und dass er bei einem Fluchtversuch notfalls sein Leben aufs Spiel setzen würde, falls der Onkel und Höttsche ihn einsperren würden, damit er nicht mehr zu Kronus gehen könnte.
»Lang genug wofür?«, fragte Oda. »Du willst doch nicht etwa …?« Ihr Blick ging nach oben.
»Doch«, sagte Amos einfach. »Ich seile mich vom Dach ab. Der Turm misst ungefähr dreißig Fuß. Auf dieser Seite« – er deutete zur Fensterluke – »fängt direkt darunter die Felswand an. Die geht senkrecht hinab bis zum Grund der Schlucht, aber so weit muss ich ja gar nicht. Komm mit«, sagte er wieder, »ich zeig’s dir.«
Wieder schaute sie ihn ungläubig an, schluckte aber alle Einwände herunter, die ihr auf der Zunge liegen mochten. Amos warf sich das Seil über die Schulter und schob die anderen Schätze in ihre Verstecke zurück. Beschwörend legte er den Zeigefinger auf seine Lippen, dann lief er Oda voraus zum zinnengeschmückten Turmfirst.
Ihm war ein wenig schlecht vor Aufregung und Angst, aber davon durfte Oda nichts merken. Sie würde ihn niemals dort hinunterklettern lassen, wenn sie mitbekäme, wie wahnsinnig gefährlich sein Plan war. Aber er musste es einfach versuchen – wegen Kronus und genauso wegen der Kreatur aus dem Eisenwagen, die heute früh in der Kutsche des Inquisitors gesessen hatte. Auch dieses Wesen musste seitdem hier irgendwo in der Burg sein, und Amos ahnte, dass der Lichtfresser es vor allem auf ihn abgesehen hatte. Auch wenn er nicht im Mindesten verstand, weshalb das so war und was es mit der Kreatur überhaupt auf sich hatte.
Auf der obersten Treppenstufe blieb er stehen und spähte nach links und rechts. Von den Purpurkriegern war nichts zu sehen. Er ging in die Hocke und machte seiner Schwester ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Vom Hof und selbst von den tiefer gelegenenBurgmauern aus waren sie auf diese Weise nicht wahrzunehmen. Und drüben auf dem Dach des Wohnturms, der alle anderen Burgteile überragte, schien sich glücklicherweise niemand aufzuhalten. Während unten im Hof ein lauter Wortwechsel zwischen dem Inquisitor und dem grau gewandeten Mann mit der bellenden Stimme begann, schlichen die Geschwister zur Nordseite des Turmdachs.
Das Seil über der Schulter, beugte sich Amos über die Brüstung. Der Turm schloss sich so glatt an die Felswand an, als ob er ein Teil von ihr wäre. Nicht einmal eine Bergziege hätte auf dem winzig schmalen Felsrand zwischen dem Turmfuß und dem lotrechten Abgrund Halt gefunden, ja selbst einem Mäusebussard bot der Grat zu wenig Platz zum Landen. Er war nicht sehr viel breiter, als Amos’ Daumen lang war, und er sah überdies verteufelt glatt aus, zumindest von hier oben und wenn man sich vorstellte, dass man sich mit den Fingern daran festkrallen sollte.
»Du willst doch nicht etwa da runter?« Obwohl Oda flüsterte, klang ihre Stimme schrill.
Er zuckte mit den Schultern und nickte ihr gleichzeitig beruhigend zu. »Keine große Sache, Schwesterchen, wenn man weiß, wie so etwas geht.«
»Und du weißt das?« Oda lehnte neben ihm an der Brüstung. Mit der Hand hielt sie sich an einer der klobigen Steinzinnen fest. »Sag nur, du bist da schon mal runtergeklettert?«
Sein Nicken fiel diesmal halbherzig aus. Er konnte nur hoffen, dass sie sich damit zufriedengeben würde. Seit Wochen hatte er vor, das Seil einmal auszuprobieren, doch bisher hatte er es immer vor sich hergeschoben. Zumindest aber hatte er hier oben auf dem Turmdach schon halbe Tage damit
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