Orangenmond
hatte und plötzlich an ihrer Seite auftauchte. Eva und Georg warteten, bis Helgas Aufmerksamkeit vom nächsten Schmuckladen beansprucht wurde, bevor sie weitersprachen.
»Wir gehen hin und reißen ihm ein Haar aus seinem roten Bart, er wird zucken, aber das fällt ja niemandem auf, oder wie?« Eva sah Georg zweifelnd an.
»Als sie uns endlich aus diesem Laden rausgeschmissen haben und ich den schlafenden Emil schon auf dem Arm hatte, habe ich noch sein Grappaglas in die Jackentasche gesteckt. Das ist mir dann aber im Treppenhaus auf die Stufen geknallt.«
»Ach, du warst das. Ich bin heute Morgen über die Scherben gestiegen …«
»Und hast sie nicht mitgenommen?«
»Ich wusste doch nicht, dass du deine Beweismittel im Flur verstreust, ich habe sie noch nicht einmal mit dem Fuß zusammengekehrt.«
»Cool, du kümmerst dich nicht mehr um deine Umwelt. Der Abend mit Jannis hat dir gutgetan.«
Eva verkniff sich eine Antwort und ein Grinsen. Georg war eifersüchtig!
»Die Nacht mit Jannis, meine ich. War’s denn wenigstens schön?«
»Ach, was du gleich immer denkst … Wir haben uns Rom angeschaut, das war toll, man sieht nachts viel mehr von der Stadt, weil es einfach nicht so verdammt voll ist.« Eva lachte, doch das schlechte Gewissen breitete sich in ihr aus wie die Testflüssigkeit in einer der Speichelnachweis-Kassetten in ihrem Labor. Was hatte sie da mit Jannis bloß vorgehabt? Noch immer zog ein wohliger Schauer durch ihre Brust, wenn sie an ihn dachte, aber sie hatte zu viel von allem getan. Zu viel getrunken, zu viel geredet, ihm zu viel versprochen.
»Siehst du die Lücken?«, raunte Eva Georg zu, als sie zwei Stunden später bei Konrad im Salon standen.
»Hätte mir als ehemaligem Requisiteur doch eigentlich sofort auffallen müssen«, gab er zurück und schaute Konrad hinterher, der in die Küche gegangen war, um ihnen auf ihren Wunsch hin einen Espresso zu machen.
»Aber nur, wenn du auch einen trinkst«, hatte Eva mit Schmeichelstimme gesagt, irgendwie mussten sie ja an seine DNA kommen.
»Wenn man Helga mal braucht, ist sie nicht da«, murmelte Georg, »ich hätte die Bilder gerne gesehen.«
»Wozu Helga?«
»Um ihn abzulenken«, sagte Georg leise und legte seine Hand auf Emils Kopf, der vertieft in das Pling-Plong eines Gameboy-Spiels auf dem Sofa saß.
»Sie musste Donald noch mal sehen. Und das, was du von ihr willst, kann ich doch auch tun. Gleich wenn du aus dem Salon kommst, links, schräg gegenüber der Küche ist das Arbeitszimmer. Da standen sie vorgestern noch zwischen irgendwelchen Ölbildern an ein Regal gelehnt.«
Sie tranken den Espresso, Georg legte zweihundertfünfzig Euro für die Übernachtungen inklusive Endreinigung auf den Tisch, ein Freundschaftspreis, betonte Konrad und lamentierte über den Wahnsinn, in Rom zu leben. Eva hörte ihm nicht zu, sie konzentrierte sich vielmehr auf das Licht, in dem die Wände in diesem Moment warm aufleuchteten. Selbst in dieser ruhigen Wohngegend in der Nähe des Parks auf dem Colle Oppio konnte man Rom und seine Armada von Autos hören, vereint zu einem einzigen, unterschwellig brummenden Motor.
Eva bat um ein Glas Wasser, vielleicht trank Konrad ja auch eins. Ein Glas ließ sich unauffälliger entwenden als eine Espressotasse. Georg fragte nach der Toilette, Emil versuchte noch immer das nächste Level auf seinem Gameboy zu erreichen. Eva begleitete Konrad in die Küche, damit er in den nächsten fünf Minuten nicht etwa auf die Idee käme, in sein Arbeitszimmer zu gehen.
Wer war dieser Konrad, was hatte er in ihrer Schwester gesehen, was mit ihr geteilt?, fragte sie sich, während sie seinen breiten Rücken unter dem currygelben Poloshirt anstarrte. Alle Männer von Rom trugen dieses Jahr Currygelb, doch kaum einem stand die Farbe. Sie wollte das Bild von Milena noch einmal zusammensetzen, wollte es ganz allein für sich neu gestalten, nicht bei anderen etwas richtigstellen oder geraderücken, selbst bei Georg nicht. Die Vorstellung von ihrer Schwester, die sie schon lange vor ihrem Tod nicht mehr hinterfragt hatte, musste dringend erneuert werden.
»Hast du eigentlich Kinder, Konrad?«
»Nein, glaubs nööd, aber als Mann weißt du das ja nie …«
Stimmt. Eva trommelte mit den Fingern auf das Ceranfeld. Reden war reine Zeitvergeudung, sie mussten sich dem Thema anders nähern. Ein ausgerissenes Haar musste her, ein vollgeschnäuztes Taschentuch, zur Not auch die Sonnenbrille, die er wie immer auf der hohen Stirn trug.
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