Orangenmond
Gehirnerschütterung und eine ausgekugelte Schulter davongetragen, Sebastian ebenfalls eine Gehirnerschütterung und drei angebrochene Halswirbel. Er musste eine Stunde ohne Hosen unter der kurzzeitig bewusstlosen, desorientierten Helga ausharren, bis ein versprengter Partygast sie zufällig fand. Danach lag er zwei Monate im Krankenhaus von Ostuni in einem Stützkorsett aus Stahl, das mit sieben Schrauben an seinem Kopf befestigt war.
Sonja, die ein paar Semester Medizin studiert hatte, bevor sie Grafikerin wurde, hatte Sebastian wahrscheinlich vor der Querschnittslähmung bewahrt, indem sie betrunkenen und nicht betrunkenen Gästen verbot, ihn auch nur das kleinste bisschen zu bewegen, und den übermüdet und verknautscht aussehenden Sanitätern die Halskrausen aus der Hand nahm, um sie den beiden selbst anzulegen.
Milena hatte sich schon hingelegt, sie weinte vor Schreck, als sie von dem Sturz mit den schrecklichen Folgen hörte, eilte im Nachthemd über das Nachbargrundstück zu der Unfallstelle und fasste sich dabei immer wieder an den Bauch.
Eva, die das beste Italienisch sprach, übersetzte die Fragen der Sanitäter und fuhr mit Sonja hinter dem Krankentransporter ins Krankenhaus. Dass sie ziemlich viel Alkohol im Blut hatte, vergaß sie in der Aufregung. Zurück blieben die geschockten Gäste und eine immer noch schluchzende Milena in den Armen eines wütenden Georg, der sich seiner Mutter einmal mehr schämte.
Die ausgelassene Stimmung der Hochzeitsfeier war dahin, man sprach ab diesem Zeitpunkt kaum mehr über das bezaubernde Fest, sondern nur noch von seinem Ende, vom Mauer-Fall .
Sebastian verzichtete ausdrücklich auf Helgas Besuch. Auf den seiner Frau wartete er vergeblich. Meike reichte eine Woche später die Scheidung ein.
Sie fuhren den Berg hoch, Ostuni grüßte mit vielen Antennen und Wassertanks von seinen Dächern, hinten auf einer weiteren Erhebung konnte man die Kuppel der Basilika sehen. Sie waren wieder da! Eva spürte ein bekanntes Kribbeln in der Nasenspitze, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das gehörte alles ihr, Ostuni gehörte nur ihr und Milli!
Doch sie wusste, sie weinte nicht wegen ein paar Antennen und Wassertanks. Die Stationen ihrer Reise, all die Begegnungen mit Milenas Exmännern, Liebhabern, Fans, Befruchtern oder was auch immer, waren vergleichsweise harmlos gewesen. Schon in Hamburg hatte sie geahnt, dass erst hier die Begegnung mit den Erinnerungen an ihre Schwester etwas in ihr auslösen würde, wovor sie sich seit Milenas Tod gefürchtet hatte.
24
Ganz selbstverständlich, ohne das Navi oder Eva fragen zu müssen, lenkte Georg den Wagen an der westlichen Flanke und den Ausläufern Ostunis vorbei. Bevor er auf die Landstraße Richtung Cisternino fuhr, hielt er an ihrem altbekannten Supermarkt, der zwar anders hieß als früher, doch die uralten Einkaufswagen und der Mann mit dem Hinkebein an der Gemüsewaage waren noch dieselben. Sie packten drei Wasserflaschen, ein paar Schokoriegel, einen Liter Milch und Knuspermüsli in den schäbigen Einkaufswagen. Helga stellte zwei Flaschen Rotwein dazu. »So sind wir nicht auf die teure Minibar angewiesen!«
»Den Rest kaufen wir morgen«, sagte Georg, »ich will jetzt endlich ankommen!«
»Ich auch. Darf ich noch in den …?« Georgs Blick ließ Emil verstummen.
Eva hatte die Scheibe heruntergelassen und ließ den Wind über ihre nackten Arme streifen. Alles war so vertraut: die Kurven der Straße mit ihren seitlichen Mauern aus grauen Steinen, die Olivenbäume in jedem erdenklichen Alter und Zustand, das stark verrostete Schild mit der dicken Spa ghetti-Frau darauf und die Reklame für die Boutique Aprile an der Via Pola, die es seit Jahren nicht mehr gab.
Niedrige Schilderpfeile wiesen an den abzweigenden Sträßchen auf die contrade hin: Contrada Badessa, Contrada Piatone, so hießen die Bezirke, in die das spärlich bewohnte Land um Ostuni eingeteilt war, auf dem es früher nur Olivenhaine, Mandelbäume, vereinzelte Häuser und jede Menge unbewohnter Trulli gegeben hatte. In den letzten Jahren waren ein paar versteckte Villen, Pools und Luxushotels hinzugekommen.
Hotel Città Bianca, schon von Weitem sah man das beleuchtete Schild direkt an der Straße. Georg verlangsamte seine Fahrt.
»Jetzt ins Hotel oder erst kurz zum Trullo?«
Eva hielt die Luft an vor Empörung. Nein, nein, nein, das war so nicht verabredet! »Erst ins …«, konnte sie gerade noch sagen, da wurde sie schon von Emil und Helga
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