Orangenmond
1976, dann hat sie mich wieder abgeholt.«
Eva merkte, dass ihr Mund ganz trocken wurde. Hatte er ihr nicht auf dem Campingplatz in Pesaro erzählt, dass er es Helga so hoch anrechne, ihn nie alleine gelassen zu haben? Sie habe ihr Kind bei sich haben wollen! Stolz und irgendwie erleichtert war er gewesen, etwas Gutes an ihr entdeckt zu haben und sich daran festhalten zu können.
»Ich war fertig, Georg, ich war so jung, ich habe dich geliebt, aber du warst so furchtbar anhänglich. Nie konnte ich einen Schritt ohne dich tun. Was andere Kinder als Phase mal ein paar Monate haben, hattest du zwei Jahre lang. Du hast mich erstickt in dieser Zeit. Und ich habe dich dennoch nicht verwahrlosen lassen!«
»Na wunderbar!«
»Sondern habe mir Hilfe gesucht.«
»In Form von Brigitte. Die war doch auch nicht viel älter als du.«
»Ja, aber sie war noch ›frisch‹, sie hatte noch nicht zwei Jahre mit einem Kleinkind verbracht, war ausgeruht und ganz vernarrt in dich. Ich musste mir keine Sorgen um dich machen.«
»Weil du mit diesem Tänzer nach Montpellier gehen musstest? Für einen Monat? Und dann einfach nicht wiederkamst. Was für eine Mutter macht denn so was?! Und wenn du deine Freiheit brauchtest, wäre ich da bei Oma und Opa in München nicht besser aufgehoben gewesen als bei irgendeiner Brigitte? Nur weil du zu stolz warst zuzugeben, dass du es alleine nicht schaffst? Oder bei meinem leiblichen Vater? Was war mit dem?«
Helga schaute ihn nur an, dann stand sie auf und ging hinüber in ihren Trullo.
»Ich wusste nie, woher mein mulmiges Gefühl beim Läuten von Glocken kommt, aber heute auf der Piazza, als Brigitte erzählte, war mir plötzlich alles klar. Sie war Au-pair-Mädchen, die Familie hatte einen kleinen Sohn, auf den sie aufpassen musste. Sie hat mich einfach mitgenommen, die Leute waren reich, sie wohnten auf dieser Insel in der Seine, direkt neben Notre-Dame. Ich habe das Läuten der Glocken mit diesem Warten verbunden! Diese Klänge sind unwiderruflich an den Verlust und die Hoffnungslosigkeit geschmiedet. Mama kommt bald wieder. Wie oft kannst du das einem Kind erzählen? Was macht die Seele eines Zweijährigen in so einem Fall, um sich zu schützen? Wenn ich an Emil mit zwei Jahren denke, wie viel der in diesem Alter schon mitbekommen hat …«
Wenn Männer weinten, war das beunruhigend, auch in Filmen konnte Eva den Anblick kaum ertragen. Bei Georg war das etwas anderes. Nach Milenas Tod hatte sie ihn noch oft weinen sehen, nicht in der Öffentlichkeit und nicht vor Emil, aber vor ihr. Die Nachricht hatte ihn geschockt, auch Eva spürte die Anspannung in ihren Muskeln, als ob sie sich körperlich besonders angestrengt hätte.
Er putzte sich die Nase. »Ich gehe kurz mal nach Emil schauen. Wartest du auf mich?«
»Ich bin hier.«
»Danke, dass du ihm etwas zu essen gemacht hast«, sagte Georg, als er wenige Minuten später mit zwei grünen Heinekenflaschen zurückkam. Seine Stimme war belegt. »Zu dem Fisch sind wir ja heute Abend nicht mehr gekommen … Die Kopfhörer waren deine Idee?«
Sie nickte.
»Er ist damit eingeschlafen.«
Eva trank die gereichte Flasche zur Hälfte leer, der Alkohol stieg ihr sofort in den Kopf. Georg setzte sich neben sie auf die Liege.
Wieder ein Abend bei Mondschein, wieder die Wärme, nur dass diesmal die Hunde nicht bellten, sondern die Pumpe im Trichter leise vor sich hin brummte. Und auch sonst war alles anders. Minutenlang sagte keiner von ihnen ein Wort, Eva knibbelte das Etikett von der Flasche, Georg rauchte eine Zigarette aus einer fünf Jahre alten Packung, die er im Haus gefunden hatte und die ihm, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht schmeckte. Wie verlassen er sich vorkommen musste!
»Willst du lieber allein sein?«
»Nein! Ich will überhaupt nie mehr allein sein!«
Was für ein Ende unserer Reise, dachte Eva. Sie fing mit einer schockierenden Nachricht an und endet auch mit einer. Und dennoch hat das alles nichts mit mir zu tun. Es ist Georgs Reise, Georgs Suche, es sind Georgs Erkenntnisse. Noch zwei Tage, dann bin ich zurück in Hamburg. Sie konnte sich nicht vorstellen, am nächsten Montag schon wieder in ihrer Küche neben dem Kühlschrank zu stehen, ihr Müsli zu löffeln und dabei aus dem Fenster zu schauen. Auch die Aussicht auf den wieder angeschobenen Heuhaufenfall inspirierte sie nicht. Den werden sie auch ohne mich lösen, dachte sie. Basta! Morgen war noch genug Zeit, in einem Café mit WLAN-Zugang den Flug nach
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