Orangenmond
günstigen Schuhen stehen blieb, das Helga ignoriert hatte.
»Ach je, unser nächster Verdächtiger, der Choleriker. Und? Hast du ihn gefunden?«
»So wie es aussieht, gibt es gar keine Kinos mehr direkt in der Stadt. Aber so ganz habe ich das auf Italienisch nicht kapiert.« Eva riss ihre Aufmerksamkeit von den viel zu hohen gelben Pumps im Fenster los.
»Georg! Wollten wir nicht auch Emil in Ruhe zeigen, wo Milena und ich damals gewohnt haben, wo wir studiert haben? Damit auch er etwas von unserer Reise hat, damit er ein bisschen was vom Leben seiner Mutter kennenlernen kann? Oder sind wir nur hier, um Reza über Milena auszufragen?!«
Eva musste ihn gar nicht anschauen, um die Antwort zu wissen. Sie sah ihrem Spiegelbild in der Scheibe dabei zu, wie es gequält auflachte, und merkte, wie sie innerhalb von Sekunden ärgerlich wurde, ihm jedoch sofort wieder verzeihen wollte. Er war einfach besessen von dieser Suche.
»Kommt ihr? Ich habe solchen Hunger!«, rief Emil.
»Ja, ich komme!« Sie war froh, ein paar Schritte vorneweg laufen zu können.
Je näher sie dem Ende des Corso, Richtung Piazza IV Novembre, kamen, desto dichter wurde die Menschenmenge, die offenbar nur noch aus Reisegruppen mit Regenschirm schwenkenden Führern bestand. Noch immer vermied Eva es, wieder neben Georg zu gehen, sondern gesellte sich zu Emil und Helga. Schließlich wollte sie diese Reise wirklich nutzen, um Emil etwas von Milena zu erzählen.
»Hier in diesen Arkaden war eine Telefonzentrale, von da haben wir manchmal nach Hause telefoniert, es gab ja noch keine Handys.«
»Und es gab noch keine iPods und keine Musik zum Runterladen, sondern überall nur Radios und turntable , oder?«
»Was für Dinger?« Helga schaute Emil an, als ob er vor ihren Augen gerade etwas Giftiges hinuntergeschluckt hätte.
»Und dort, in diesem Benetton-Laden, der damals schon genau an derselben Stelle war, hat Milena mal eine kurze gelbe Hose geklaut«, flüsterte Eva Georg zu, den sie neben ihrem Ellbogen spürte. Ein Friedensangebot, das er grinsend annahm.
»Hier ist das Café Sandri, da müssen wir morgen unbedingt einen Espresso trinken. Es ist das älteste und schönste Café von Perugia.«
Emil presste seine Nase an das Fenster. Kleine Törtchen und Schokoladenkreationen im Werte von mehreren Tausend Kalorien lagen zum Verzehr bereit. »Darf ich eins?« Georg nahm Emils Kopf in die Hände und zog ihn seufzend ein wenig nach hinten. Bakterien. Keime. Wann wird er das endlich kapieren, sagte sein Blick.
»Jetzt gehen wir erst mal etwas Richtiges essen. Morgen zum Frühstück ins Sandri, okay?«, sagte Georg. Ich hätte ihm das jetzt erlaubt, um mich beliebt zu machen, dachte Eva. Aber als Vater muss man wahrscheinlich ab und zu eine unpopuläre Meinung vertreten.
Sie lief vorweg, drehte sich zwischendurch immer wieder um und ging dann ein paar Schritte rückwärts, während sie die Gruppe mit weiteren Informationen versorgte. Leider waren deren Mitglieder nicht sonderlich aufmerksam. Helga blieb an jeder Boutique stehen, besonders da, wo die Fensterrahmen vergoldet waren und man nur ein einziges edles Kleidungsstück auf einer Puppe ohne Kopf drapiert hatte. Georg schien in Gedanken, er sah alles an und sah doch nichts, Emil blickte den wenigen Kindern nach, die an ihm vorbeigingen.
Eva suchte den Corso ab, hier musste doch irgendwo das Kino sein, in dem sie mit Milena diesen tollen Film mit Harrison Ford gesehen hatte. Gleich zweimal hintereinander. Dort vorn, zwischen einem Schuhladen und einer Bank? Nein, es war nicht mehr da.
Hinter der Piazza IV Novembre hatte es damals noch ein Kino gegeben. Größer. Schöner. Wenn überhaupt, übernahm ein berühmter Regisseur das beste Kino einer Stadt.
Eva merkte, dass sie trotz ihres Ärgers auf Georg lächelte. Perugia tat ihr gut, sie fühlte sich unglaublich wohl hier. Warum war sie nie auf die Idee gekommen, diese Stadt, in der man von jeder Ecke aus weit in die grünen Hügel Umbriens sehen konnte, in der das Atmen leichtfiel und die sie offenbar so liebte, zu besuchen? Um in der Cafeteria der Università per Stranieri einen Cappuccino zu trinken oder auf dem Corso Vannucci zu bummeln? Warum hatte sie die vielen schönen Erinnerungen, die hier geborgen waren, so tief in ihrem Gedächtnis vergraben?
»Eva, das da ist deins!«, rief Helga plötzlich. In der Vitrine eines Geschäfts war ein hellrotes Kleid um einen Torso ge wickelt. Ziemlich kurz, luftig, leicht ausgestellter Rock,
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