Orangenmond
Restaurants und Kneipen waren bereits geschlossen, und sie begegneten auch niemandem auf der Straße, den sie nach dem Weg hätten fragen können.
»Diese Gassen haben etwas Mystisches, finde ich. Man spürt, dass die Steine mit Geschichte und Ereignissen vollgesogen sind«, sagte Georg.
»Genau das habe ich heute auch gedacht. Ziemlich viel Geschichte versammelt.« Am Ende einiger Stufen hielt ein schmaler Minilastwagen, jemand stieg aus, sammelte die weißen Müllsäcke ein, die vor jeder Tür lagen, und schmiss sie in hohem Bogen auf die Ladefläche.
»So viel zur Mystik«, sagte Georg. »Die kommen hier nicht durch, müssen alles zu Fuß machen.«
»Wie wir«, stöhnte Eva.
Hand in Hand liefen sie eine schmale Nebenstraße aufwärts, kamen durch gemauerte Bögen, trafen irgendwann wieder auf weiße Mülltüten vor jeder Tür. Waren sie hier nicht schon einmal entlanggegangen? Die Straße wurde zur Gasse, dann zur Treppe, es ging flache Stufen bergauf, die auf einem kleinen Absatz vor einer Mauer abrupt endeten. Sie schauten sich an, dann hinunter in die hügelige Ebene, die sich vor ihnen erstreckte.
»Hier geht es nicht weiter«, sagte Georg.
»In der Tat.«
»In welche Himmelsrichtung müssen wir denn? Wo geht die verdammte Sonne auf?« Sie stiegen wieder hinunter, die Stufen erstreckten sich endlos. »Ich kann nicht mehr«, sagte Eva nach zwei Minuten, setzte sich auf eine der Stufen, streckte ihre Beine und die schmerzenden Füße von sich. »Ich bin müde, mir ist schlecht, und ich will jetzt in meinem verdammten Bett liegen! Sofort!«
»Ich finde diese Stadt wunderbar. Sie macht dich so echt, so unverstellt.«
»Bin ich denn sonst verstellt?«
Georg wiegte den Kopf hin und her. »Du benutzt ganz andere Wörter, seitdem wir hier sind, sagst direkt, was du denkst, lässt dich gehen, hast nicht dauernd irgendwelche Lö sungsvorschläge parat. Ich mag es ja, dass du so organisiert bist, aber noch schöner ist es, wenn du so wie jetzt bist.«
Sagst direkt, was du denkst … Eva lachte innerlich auf. Nur wenn es um dich geht, traue ich mich das immer noch nicht. »Ich mag Perugia und die Leute hier auch, und weißt du, warum ich nie mehr hier war? Warum ich Perugia abgehakt und weggepackt habe? Es lag an Milena!« Nun fing sie ausgerechnet auch noch von Milena an. Warum?
»Schon in diesen drei Monaten wurde klar, dass Milena ihren eigenen Weg gehen würde, dass sie nicht mehr unter meinem Schutz stand, sie brauchte ihn nicht. Ich, ihre große Schwester, hatte ausgedient. Im Gegenteil, ich lief ihr hinterher, um einen von ihren Verehrern abzukriegen.« Und hatte so viel Sex mit verschiedenen Typen wie nie zuvor in meinem Leben, dachte sie. Mindestens vier. In drei Monaten! Ein Grinsen drängte ungewollt auf ihr Gesicht.
Georg setzte sich dicht neben Eva und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Na und? Ist das so schlimm? Du hast sie immer beschützt, und hier hat sie dir mal geholfen.«
»Ich habe sie eben nicht beschützt! Es war meine Schuld, dass sie innerlich fast verblutet ist!«
»Wie kann man denn da von Schuld reden? Mehr Schuld, weniger Schuld, ihr wart junge Mädchen, es ist ein Unfall passiert. Jeder von uns hat doch in seiner Kindheit oder Jugend mal so etwas erlebt.«
Georg hob Evas Kinn mit einem Finger, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Sie konnte nichts erwidern und hielt sich wie ein Kind die Hände vor die Augen.
»Hör auf, dir die Exklusivschuld an ihrem Tod zu geben, Eva! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass deine Eltern mit Milena ins Krankenhaus gefahren wären, wenn sie ihr aufgeschürftes Knie gesehen hätten?! Du warst die Aufmerksame, wärst du so bräsig wie dein Vater gewesen, wäre sie still und leise in eurem Wohnwagen gestorben …«
Eva schluchzte noch immer, konnte aber wieder reden: »Als es ihr besser ging, haben wir uns geschworen, nie wieder mit unseren Eltern in Urlaub zu fahren. ›Nie mehr Italien mit Annegret und Manfred!‹ Um den Schwur zu begießen, haben wir uns zwei Gläschen mit eklig warmem Martini aus dem Wohnzimmerschrank hinter die Binde gekippt. Wir würden alleine nach Italien reisen, um dort zu studieren, dort zu bleiben, dort für immer zu leben. Die letzten zwei Punkte haben sich nicht ganz erfüllt.«
Georg starrte auf die Stufen vor seinen Füßen. »Findest du es abartig, dass ich in einem meiner Schränke in meinem Arbeitszimmer einen Koffer mit ihren Kleidern aufbewahre?«
Eva hob den Kopf. Nun waren sie wieder bei Milenas
Weitere Kostenlose Bücher