Orangenmond
einem Stück Brot aufstippte.
»Ja, das wollte der cuoco Raffaele auch von mir wissen, wer die bella Signora da draußen sei.«
»Und?«
» Fidanzata habe ich gesagt. Schwägerin. Stimmt doch, oder?«
»Nein, fidanzata heißt Verlobte. Die Schwägerin wäre la cognata .«
»Ach, auch egal, oder?« Er grinste sie an, griff nach der Wasserflasche und schaute ihr tief in die Augen. »Noch ein Wasser, cognata? «
»Gern.«
Helga schob ihren Teller von sich und holte eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche.
»Du darfst hier nicht rauchen, Helga!«, sagte Georg.
»Ach was? Auch nicht draußen vor der Tür?«
»Emil, sitz gerade und nimm bitte die Kappe ab, ich sehe dich gar nicht!«
»Nein. Das geht nicht. Ich gehe aufs Klo!«
»Soll ich mitkommen?«
»Papa!«
»Schon gut. Aber wasch dir danach ordentlich die Hände!«
»Er ist heute Mittag in der Gondel übrigens ziemlich wütend geworden«, sagte Eva, als Emil verschwunden war. »Wegen einer Kleinigkeit. Er hätte den freundlichen alten Mann, der seine Kappe anschauen wollte, am liebsten getreten … Ich habe ihn noch nie so gesehen.«
»In der Schule hat er das auch manchmal, höre ich von den Lehrern, oder beim Fußball. Er explodiert förmlich! Das macht er zu Hause nie.«
»Er schont dich, Georg, das ist bei trauernden Kindern ganz normal. Irgendwo muss es ja hin. Auch bei Emil!«
»Ach, Mutter, nach all den Jahren? Und überhaupt? Was weißt du denn schon davon?«
»Mehr, als du denkst, Georgie! Es gibt schließlich Fachliteratur.«
Georg seufzte und tastete unter dem Tisch nach Evas Hand. Sie nickte, und in ihrer Brust wurde es warm. So könnte es aussehen, ihr künftiges Leben.
Am nächsten Morgen, während sie auf der Dachterrasse zusammen frühstückten und den fantastischen Blick genossen, las Emil so lange aus dem italienischen Flyer der Peru gina-Schokoladenfabrik vor, bis Eva, Georg und selbst Helga über ihren Cappuccinotassen zu lachen anfingen. »Über redet, Emil, wir fahren hin«, sagte Eva.
»Das Fabrikgelände liegt außerdem schon fast auf dem halben Weg nach Rom«, stellte Georg fest. Eva rief bei der angegebenen Nummer an und reservierte vier Plätze bei der deutschsprachigen Führung durch das Museum und die Produktionshallen um 11.15 Uhr.
Die Führung begann in den großen fensterlosen Räumen des Firmenmuseums, die mit glänzendem Parkett und ge schickt angebrachten Strahlern ausgestattet waren. Groß auf gezogene Schwarz-Weiß-Fotos der Firmengründung waren zu sehen, Vitrinen mit alten Maschinen und noch älteren Pralinenschachteln, auf Bildschirmen liefen kleine Filmchen mit viel Werbung für den neuen Besitzer Nestlé und die Peruginer Schokoladentage. Zwei Stunden später standen sie mit Tüten voller Prospekten, Schokolädchen und Pralinen wieder auf dem Fabrikparkplatz.
Die Autobahn nach Rom war voll, doch die Stimmung besser als je zuvor bei ihren Fahrten.
»Weißt du, was ich am besten an der Schokoladenfabrik fand?«, fragte Emil Eva, während er in der großen Papiertüte aus dem Schokoladen-Shop kramte.
»Nein. Sag mal!«
»Die Schokoladentäfelchen, für die man nicht bezahlen musste. Guck, die hat Oma alle eingesteckt und mir gegeben.« Er sortierte die kleinen Schokoladentafeln aus der Tüte nach ihren Farben.
Helga drehte sich geschmeidig zur Rückbank um. »Ach, dieser Geruch nach Schokolade war einfach köstlich, mmmh, so satt und herbsüß nach Kakao. Na ja, ich bin eben ein sinnlicher Mensch.«
Im Gegensatz zu uns, oder was soll das heißen?, dachte Eva.
Emil zählte auf den 174 Kilometern die Autobahnbrücken, sie hielten an zwei Rastplätzen, weil Helga plötzlich Schmerzen in der Seite hatte und sich strecken musste, und an einem Autogrill, wo sie getrocknete Steinpilze und gehobelte Trüffel in einem Glas kaufte. »Das habe ich gestern bei der netten Plauderei mit Raffaele ganz vergessen …« Dann ging es weiter.
»Was hast du in Rom eigentlich genau vor, Helga?«, fragte Georg, der sich durch den langen Stau vor der Mautstation nicht aus der Ruhe bringen ließ.
»Ich bin heute Abend verabredet, in einem kleinen Restaurant, am Kolosseum. Mein Verleger – oder der, der es werden soll – kommt dorthin.« Sie ließ ein paar glucksende Laute hören. »Endlich der Lohn für die Plackerei!«
Georg stieß einen Schwall Luft aus. »Und bis dahin? Ich meine, in welchem Hotel wirst du logieren?« Er betonte das letzte Wort kein bisschen.
»Da habe ich mich bis jetzt noch nicht entscheiden
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