Orangentage
dass er ein Messer brauchte, um das Boot aus der Rinde herauszuholen, als ihm Frau Paterova die Hand auf die Schulter legte.
»Wir haben heute Morgen heftig geweint«, flüsterte sie voller Mitleid in sein Ohr. Wenn sie über Ema redete, hatte sie immer eine sanfte, leicht betrübte Stimme und verwendete die erste Person Plural. Beides war Darek höchst unangenehm.
»Weswegen?«, fragte er gereizt. Die Lehrerin berührte flüchtig ihren Scheitel, zog aber die Hand sofort wieder zurück, um Ema nicht an das abgeschnittene Haar zu erinnern â denn das war die Ursache für das morgendliche Weinen gewesen.
»Das wächst ja bald nach«, versicherte Darek betont sorglos. Paterovas Mitleid ging ihm auf die Nerven. Sie war lieb, wenigstens hatte es die Mutter behauptet. Trotz Emas »Problem« hatte sie sie in ihre Klasse aufgenommen und Darek wusste, dass sie seiner Schwester viel mehr Zeit als anderen Kindern widmete. Dennoch störte ihn etwas im Verhalten der Lehrerin. Sie unterschätzte Ema. Sie verlangte Sachen von ihr, die auch ein Schimpanse schaffen würde. Sie dachte das, was jeder in Piosek dachte: dass Ema debil war. Die Lehrerin würde dieses Wort niemals in den Mund nehmen, weil sie es für beleidigend hielt, doch ihre übertriebene Nachsicht beleidigte genauso.
»Heute haben wir im Unterricht ein Märchen gelesen«, erzählte sie Darek, schaute aber gleichzeitig Ema an. »Ãber eine Hexe, stimmtâs? Kannst du dich erinnern, was sie gemacht hat?«
»Sie hat die Prinzessin verhext«, antwortete Ema nach kurzem Ãberlegen.
»Und wie ging es weiter?«
»Nirgendwie.«
»Weil wir es nicht zu Ende gelesen haben. WeiÃt du noch, was ihr als Hausaufgabe aufbekommen habt?«
Die Lehrerin blickte Ema ermutigend an und Ema presste ihre Faust gegen die Stirn. Das machte sie immer, wenn sie sich bemühte, aus ihrem Gedächtnis etwas auszugraben.
»Wir sollen uns selbst einen Schluss ausdenken!« Sie lächelte, glücklich darüber, dass sie sich erinnert hatte.
Die Lehrerin nickte. »Ja, ihr sollt einen passenden Schluss schreiben. Wenige Sätze genügen«, fügte sie hinzu. »Und wenn es für dich zu schwierig ist, mal einfach ein hübsches Bild zu der Geschichte.« Sie hob den Korb mit den Heften zum Korrigieren auf, öffnete die Tür ihres Wagens und winkte zum Abschied. »Tschüs, und schönen Nachmittag noch!«
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Darek nur und packte Ema, die der Lehrerin nachlaufen wollte. Immer spielte sich das gleiche Drama ab: Ema weigerte sich, sich von den Menschen, die sie mochte, zu trennen. Sie fasste sie an der Hand, am Arm, um die Taille, hielt sich an Jackenzipfeln oder Ãrmeln fest, quengelte und versuchte alles, um sie aufzuhalten. Auch jetzt zappelte sie so lange in Dareks Umklammerung, bis der Wagen mit der Lehrerin hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Erst dann beruhigte sie sich und begann wieder das Stück Kiefernrinde in ihrer Hand nach dem darin versteckten Boot zu untersuchen.
»Wo ist es?«
»Da drin.« Darek hatte keine Lust, mit Ema zu plaudern, er wollte weiter über seine eigenen Dinge nachdenken. Doch das gelang ihm in Anwesenheit seiner Schwester selten. Sie lieà sich nicht abwimmeln.
»Wo genau?«, drängte sie. »Zeig mal!«
»Hier ist der Bug«, sagte er und zeigte auf den spitzen Vorsprung der Rinde.
»Was ist ein Bug?«
»Das Vorderteil.«
»Und wo ist das Hinterteil?«
»Hier!«, sagte er und gab ihr einen Klaps auf den Po. Sie holte zum Gegenschlag aus, aber er rannte voraus. Sie lief auf ihre unbeholfene Art hinter ihm her. Der Schulranzen hüpfte auf ihrem Rücken und sie schlackerte mit den Armen hin und her. Nicht mal normal laufen kann sie! Sie hopst ja wie eine Krähe! Fehlt nur noch, dass sie krächzt!, dachte er verdrossen und blieb stehen, um auf sie zu warten. Sie befanden sich ein Stück vom Laden entfernt, dem lebhaftesten Platz des Dorfes, und Darek wollte keine unnötige Aufmerksamkeit wecken. Er wusste, dass die umherstehenden Nachbarinnen am Ladeneingang die HauptstraÃe und jeden, der dort entlangkam, im Visier hatten. Sie würden sowieso schon Emas neuen, struppigen Haarschnitt und Dareks zerrissenen Pullover bemerken und ihren Kommentar dazu abgeben. Am besten liefen sie schnell an ihnen vorbei, entschied er. AuÃerdem
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