Orangentage
schwärzesten Augen weit und breit, Erbgut der Familie Bulis. Die Augen ihres Bruders Mischa waren auch sehr dunkel, aber ziemlich klein, sodass die Farbe nicht wirklich auffiel. Hankas Pupillen waren groà und uferlos. Man konnte sie nicht im Ganzen erfassen, denn früher oder später musste man ihrem Blick ausweichen, sonst würde etwas passieren. Darek war nicht klar, was passieren würde, er hatte es noch nicht ausprobiert.
»Bist du heute Nachmittag zu Hause?«, fragte sie und nahm den Fuà vom Fahrradpedal herunter.
»Keine Ahnung.« Er bemühte sich um die Wiederherstellung des gelangweilten Gesichtsausdrucks. »Warum?«
»Ich soll einen Stromkreis bauen. Für den Physikunterricht.«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Allein schaffe ich es nicht.«
»Doch, du schaffst es.«
»Bitte, bitte, Darek!«, bettelte sie und um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen, berührte sie mit dem Daumen die Klingel. Darek zögerte. Es tat ihm gut, sich bitten zu lassen. Hanka war ein Jahr älter, sie ging aufs Gymnasium und der GroÃteil ihres Lebens spielte sich in der Stadt ab. Dass sie kein Physik-Ass war, untergrub keineswegs ihr Selbstbewusstsein. Im letzten Herbst hatte Darek sie in Bruntal auf dem Marktplatz mit einer Gruppe von Mitschülern gesehen. Alle sahen sie gelassen aus und gaben mit jeder Bewegung zu erkennen, dass die Welt ihnen gehörte. Darek war damals vor einem Schaufenster stehen geblieben, weil er sich in seiner braven Cordhose und dem frisch gebügelten Hemd wie ein Idiot fühlte. Er war froh, dass Hanka ihn nicht bemerkte oder es zumindest vortäuschte.
»Also, um wie viel Uhr soll ich kommen?« Hankas Finger berührte wieder die Klingel, sie verlangte eine Antwort. »Wenn du nachmittags keine Zeit hast, kann ich auch abends vorbeischauen, kein Problem. Oder komm du zu uns.«
Sie sprach über die Zeit wie über etwas, über das man frei verfügen konnte. Etwas, das sich organisieren lieÃ. Dareks Zeit aber lieà sich nicht organisieren, weil zu viele Menschen und Umstände sie in Anspruch nahmen. Familienereignisse hatten die üble Angewohnheit, sich nicht anzukündigen. Man konnte sie nicht voraussagen und sich auch nicht gegen sie wehren. Höchstens fliehen konnte man. Aber sie holten einen sowieso ein.
»Komm um vier«, sagte er. Mitten am Nachmittag bestand mehr Hoffnung, dass der Vater nicht heimkam. Und wenn, würde er nüchtern sein oder aber gleich ins Schlafzimmer kriechen. Tagsüber schämte er sich für seine Sauferei.
»Pünktlich um vier bin ich bei dir«, dichtete Hanka und setzte sich wieder aufs Fahrrad. »Also tschüs, bis dann!«
Sie trat in die Pedale und radelte zügig los. Darek konnte nicht widerstehen â er wandte den Kopf, um ihr nachzuschauen. Sie fuhr leicht nach vorne gebeugt, ihr Haar flatterte im Wind, am linken Ohr schaukelte eine schwarze Spirale mit einem Kristalltropfen. Es sah aus, als ob ihr Ohr weinte. Darek überlegte, ob sie schon mal jemanden geküsst hatte. Mit vierzehn und mit solchen Augen durfte man es annehmen, doch Darek hätte gern Gewissheit gehabt. Als er neulich Mischa gefragt hatte, war dieser nicht imstande, ihm eine befriedigende Antwort zu geben.
»Mann, sie erzählt mir nichts! Ich meine, keine Geheimnisse. Aber ein gegelter Affe aus Bruntal klebt dauernd an ihr«, verriet er ihm. »So ein krasser Angeber. Er ist sogar schon mal bei uns aufgelaufen.«
Das war eine interessante Information. Hanka hatte also nichts gegen krasse Angeber . Darek überlegte, ob es für ihn vielleicht von Vorteil wäre, die gelangweilte Miene abzulegen und stattdessen nicht mehr von Hankas Seite zu weichen â¦
»Darek! Schau mal, was ich habe!«
Er zuckte zusammen. Für ein paar Minuten hatte er Ema vollkommen vergessen.
»Wir nehmen sie mit nach Hause, ja? Guck mal, wie schön sie ist!«
Ema erschien im Gebüsch am StraÃenrand und kam mit einer weiÃen Katze auf dem Arm langsam auf Darek zu. Sie strahlte über das ganze Gesicht und presste das Tier so fest an sich, dass ihre Hände unter dem zottigen Fell kaum zu sehen waren. Die Katze protestierte laut, doch Ema ging nicht darauf ein.
»Sie heiÃt Schneewittchen«, teilte sie Darek mit. Schon seit sie ganz klein war, hatte sie eine Schwäche für weiÃe Tiere: Katzen, Kaninchen, Lämmer, Hunde. »Schneewittchen
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