Orchideenhaus
wusste er auch, dass in der folgenden Nacht Vollmond sein würde. Er hörte, wie die Wellen kaum fünfzig Meter von ihm entfernt sanft an den Strand schlugen. »Dieser Ort ist sehr beruhigend«, erklärte er.
»Schön, dass es Ihnen gefällt. Haben Sie Hunger?« Lidia deutete auf das rauchende Feuer und den Grill mit den dicken, frischen Fischen darauf.
Harry nickte und erhob sich.
Sie setzten sich alle an einen langen Holztisch, die Kinder auf Matten um die Erwachsenen herum, und aßen den besten Fisch, den Harry je verspeist hatte. Die Kinder tranken Kokosmilch direkt aus der Nuss. Viel verstand Harry nicht von dem, was um ihn herum gesprochen wurde, aber er fühlte sich wohl in dieser glücklichen und zufriedenen Familie. Lidia, die zwischen ihren Großeltern saß, schaute oft zu ihm herüber, um sich zu vergewissern, dass ihm nichts fehlte.
Und jedes Mal nickte er.
Etwa eine Stunde später spürte Harry mit einem Mal, wie anstrengend der Tag gewesen war. Er versuchte, sein Gähnen zu unterdrücken.
Lidia, die es bemerkte, flüsterte ihrer Tante etwas über den Tisch zu, und diese klatschte in die Hände. Sofort verstummten die Kinder. Sie wussten, dass sie nun nicht mehr am Strand herumtollen durften und ins Bett mussten.
Lidia gesellte sich zu Harry. »Meine Tante zeigt Ihnen, wo Sie schlafen«, teilte sie ihm mit. »Ich komme morgen und hole Sie, okay?«
»Lidia, keine Umstände meinetwegen. Genießen Sie das Zusammensein mit Ihrer Familie. Ich bin vollkommen glücklich hier. Ihre Familie ist wirklich sehr gastfreundlich. Bitte sagen Sie ihnen danke schön von mir.«
»Das können Sie selbst«, ermutigte sie ihn.
»Ja, natürlich. Kop khun krub «, murmelte er und verbeugte sich ziemlich steif. Lidias Verwandte lächelten anerkennend. Harry folgte Lidias Tante den Strand entlang, wo sie auf die letzte Hütte zeigte.
»Mister Harry, wir freuen uns … Sie haben«, würdigte sie seine Bemühungen in stockendem Englisch.
»Danke.« Er drückte die hölzerne Klinke der Hütte herunter, trat ein und schloss die Tür. Der Raum war bis auf eine Matratze auf dem Boden, ein frisch gewaschenes Laken und ein Moskitonetz leer. Zu müde, um sich auszuziehen, legte Harry sich auf die Matratze und schlief sofort ein.
38
Als Harry durch einen leichten Schmerz an der Hüfte, die auf der dünnen Matratze auflag, geweckt wurde, erfasste ihn Panik, weil er glaubte, wieder in Changi zu sein. Doch dann erinnerte er sich, wo er war, und öffnete die Augen. Das einzige Licht in dem Raum fiel durch das kleine, mit einem Maschengitter versehene Fenster. Harry streckte sich, stand auf, trat an die Tür und öffnete sie.
Bei dem Anblick, der sich ihm bot, stockte ihm der Atem.
Vor ihm lag ein traumhaft schöner, menschenleerer Strand, der sich seidig-weiß vor dem ruhigen, tiefgrünen Meer erstreckte und in einer hügeligen, bewaldeten Halbinsel endete.
Harry zog sich bis auf seine lange Unterhose aus und lief über den warmen Sand, um im Meer zu baden. Eine Weile schwamm er schnell dahin, dann drehte er sich auf den Rücken, um den azurblauen Himmel und das palmenbestandene Ufer zu betrachten.
Hinter dem Strand ragten in der Ferne von einem Dschungel bedeckte, wolkenverhangene Berge auf, die offenbar eine unüberwindbare Barriere zum Hinterland bildeten.
Harry, der es kaum fassen konnte, dass ihm dieses Paradies allein gehörte, ließ sich einige Zeit im Wasser treiben, bevor er an den Strand zurückschwamm und mit einem Gefühl der Euphorie in den heißen weißen Sand sank.
Als er entdeckte, dass eine kleine Gestalt sich ihm mit einem Sonnenschirm näherte, setzte er sich auf. Es war Lidia, die ihn mit einem besorgten Stirnrunzeln begrüßte. »Alles in Ordnung, Harry?«, rief sie. »Wir dachten, Sie sind weg, aber dann sehen wir Kleider.«
Verlegen darüber, dass sie ihn in seiner nassen langen Unterhose sah, stand Harry auf und ging hastig zur Hütte.
»Ich wollte schwimmen«, erklärte er. »Lidia, dieser Strand ist der schönste Ort, den ich kenne.«
Sie strahlte. »Es freut mich, dass er Ihnen gefällt, Harry. Er ist gut für Ruhe, ja?«
»Ja.« Er drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Ich warne Sie, es könnte sein, dass ich nie wieder hier wegmöchte.«
»Dann müssen Sie Fischer werden«, sagte sie und reichte ihm seine Kleidung.
»Das kann ich lernen.«
»Sie wollen sich waschen?«, fragte sie. »Hinter Hütte von Onkel und Tante sind Wasserleitung und Handtuch für Abtrocknen. Ich warte hier.«
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