Orchideenhaus
nicht länger verdrängen konnte, wenn sie tatsächlich ins Leben zurückfinden wollte.
Vielleicht, dachte sie, musste sie jene wertvollen Momente auch wieder schätzen lernen, statt sich gegen sie zu wehren …
Die untergehende Sonne taucht das blaue Wasser in einen rotgoldenen Schimmer, als stünde es in Flammen. Der Klang von Rachmaninows drittem Klavierkonzert weht über die Terrasse herüber und erreicht seinen Höhepunkt, als die Sonne im Meer versinkt.
Dies ist meine Lieblingstageszeit, wenn die Natur sich eine Verschnaufpause gönnt und die Lebensspenderin sich zur Ruhe begibt.
Leider können wir weit weniger oft hier zusammen sein, als ich es mir wünschen würde, weswegen mir dieser Moment sehr kostbar erscheint. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, so dass ich die Augen schließen und mich ganz auf Xavier konzentrieren kann. Ich habe dieses Konzert selbst Hunderte von Malen gespielt und bin fasziniert von den subtilen Nuancen seiner Interpretation. Sie klingt kraftvoller, maskuliner als die meine.
Ich habe bis Mitte der Woche keine Auftritte, aber Xavier muss morgen zu einem Konzert nach Paris; wir verbringen also unseren letzten gemeinsamen Abend. Wenn er mit dem Üben fertig ist, wird er mit einem Glas Rosé auf die Terrasse kommen, wo wir dann beisammensitzen, uns über alles und nichts unterhalten und diese seltenen Augenblicke der Ruhe und Einsamkeit genießen.
Der Mittelpunkt unseres Lebens, die Energie, die uns verbindet, ist in diesem Haus. Wenn ich unseren Sohn Gabriel gebadet habe, knie ich immer neben seinem Bettchen nieder und beobachte, wie die Spannung von ihm abfällt und er ins Reich der Träume hinübergleitet.
» Bonne nuit, mon petit ange «, flüstere ich dann, schleiche auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und schließe die Tür leise hinter mir.
Ich bin froh, dass mir noch eine Woche mit ihm bleibt. Manche
Mütter haben das Vergnügen, ihre Kinder vierundzwanzig Stunden am Tag zu sehen, jedes Lächeln und jede neue Fähigkeit, die sie sich auf dem Weg ins Erwachsenendasein erwerben. Dafür beneide ich sie, denn mir ist dieser Luxus nicht vergönnt.
Während ich zum dunkler werdenden Himmel hinaufblicke, gesellt Xavier sich mit einem Glas Rosé und einer Schale frischer Oliven zu mir.
»Bravo«, lobe ich ihn, als er mich auf die Stirn küsst und ich sein Gesicht streichle.
» Merci, ma petite «, antwortet er.
Wir sprechen Französisch miteinander, weil seine englische Grammatik uns schlimmer erscheint als mein grässlicher Akzent im Französischen.
Außerdem ist Französisch ja nach allgemeiner Auffassung die Sprache der Liebe.
Er setzt sich auf den Stuhl neben mir und legt die Füße auf den Tisch vor uns. Seine Haare stehen wie immer nach dem Üben wirr vom Kopf ab, was ihn wie ein riesiges Kleinkind wirken lässt. Ich streiche ihm die Haare glatt. Er ergreift meine Hand, um sie zu küssen.
»Schade, dass ich morgen wegmuss. Vielleicht können wir uns nächstes Jahr den ganzen Sommer frei nehmen und hier sein.«
»Das wäre schön«, sage ich und beobachte aus den Augenwinkeln, wie der Mond aufgeht und den Platz der Sonne einnimmt.
Xaviers helle Haut schimmert im Licht des Mondes noch blasser. Ich werde nie müde, ihn anzusehen. Wenn ich ein Geschöpf des Tages, der Sonne bin mit meiner dunklen Haut und meinen dunklen Augen, dann ist er eines der Nacht und des Mondes.
Seine Züge, ererbt von der russischen Mutter, sind nicht klassisch attraktiv. Seine Nase ist zu lang, seine gletscherblauen Augen liegen zu nahe beieinander, seine hohe Stirn ist zerfurcht und sein dichtes schwarzes Haar strohig. Die Lippen sind das einzig Vollkommene in
seinem Gesicht: ein mädchenhaft-voller, rosiger Schmollmund, hinter dem sich große, kräftige weiße Zähne verbergen.
Sein Körper wirkt unproportioniert. Die Beine sind lang wie Stelzen, während sein Oberkörper kurz ist und die langen Arme und langen, schmalen Finger aussehen, als klebten sie am falschen Körper. Xavier ist über dreißig Zentimeter größer als ich.
Auf seinen Rippen befindet sich kein Gramm Fett, woran sich, da bin ich mir sicher, sein Leben lang nichts ändern wird. Die hektische Energie, die ihn nicht einmal im Schlaf zur Ruhe kommen lässt – er wälzt sich neben mir herum und schreit manchmal sogar im Traum –, wird alle Pfunde, die das mittlere Alter mit sich bringt, sofort verbrennen.
Ich liebe seinen Körper und seine Seele, seit ich ihn bei einem Tschaikowsky-Wettbewerb in Leningrad Schubert
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