Orchideenhaus
Schlaf.Wir treffen uns um zwölf in der Bar beim Restaurant. Bis dann.«
Julia seufzte erleichtert darüber auf, dass der Kontakt hergestellt war. Sie wusste, dass sie die Verabredung wieder absagen konnte, doch ihr noch zarter Optimismus hatte es ihr nicht erlaubt, ihm von vornherein einen Korb zu geben.
Außerdem musste sie pragmatisch denken. Bisher hatte sie von dem Geld auf ihrem englischen Bankkonto gelebt, von den Cottage-Mieteinnahmen der vergangenen acht Jahre. Als sie vor mehr als einem Monat das letzte Mal einen Blick auf den Kontostand geworfen hatte, waren nur noch ein paar hundert Pfund übrig gewesen. Sie war nicht in der Lage gewesen, bei ihrer Bank in Frankreich anzurufen, weil sie mit Sicherheit Formulare ausfüllen musste, um Xaviers und ihre Konten auf sie allein umschreiben zu lassen. Sie hatte für sich noch nicht akzeptieren können, dass es Xavier nicht mehr gab.
Ihr war klar, dass sie nach Frankreich zurückkehren musste, um ihr Leben neu zu strukturieren. Aber ein Anruf war die eine Sache, eine physische Konfrontation mit den Fakten eine völlig andere.
Da Julia ihre bisherigen Fortschritte nicht gefährden wollte, beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. Gerade, als sie in ihre Jacke schlüpfte, klopfte es an der Tür.
»Hallo, Liebes, ich bin’s, Dad«, hörte sie eine Stimme von draußen.
Julia öffnete überrascht.
»Tut mir leid, wenn ich einfach so reinschneie«, sagte George, als er über die Schwelle trat. »Aber Alicia meint, du wärst die meiste Zeit hier. Ich kann gern ein andermal wiederkommen, wenn’s dir jetzt nicht passt.«
In dem winzigen Raum wirkte Julias Vater wie Gulliver im Lande Liliput. »Nein, nein, ist schon in Ordnung«, beruhigte sie ihn und zog die Jacke wieder aus, während er sich setzte. »Kaffee?«
»Nein danke. Ich hab grade welchen getrunken. War draußen auf den Marschen bei Stiffkey, um mir eine Probe von einer ungewöhnlichen Pflanze zu holen, die einer meiner Doktoranden dort entdeckt hat. Ich dachte mir, ich schaue auf dem Rückweg bei dir vorbei. Ich frage dich jetzt nicht, wie’s dir geht, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie sehr das nervt. Aber ich finde, du siehst besser aus als letztes Mal, nicht mehr so dünn. Alicia macht sich Sorgen, dass du zu wenig isst. Stimmt das?«
Julia schmunzelte. »Dad, du kannst gern einen Blick in meinen Kühlschrank werfen. Ich war gestern beim Einkaufen.«
»Wunderbar. Weißt du, ich verstehe dich, weil ich beim Verlust deiner Mutter Ähnliches durchgemacht habe. Gott sei Dank habe ich nicht auch noch ein Kind verloren. Der kleine Gabriel war so süß. Es muss schrecklich für dich sein, Liebes.«
»Ja«, bestätigte Julia mit leiser Stimme.
»Ohne gönnerhaft klingen zu wollen: Irgendwann wird es besser. Allerdings dauert das, und man kommt auch nicht ›drüber weg‹, wie es so schön heißt, sondern…«, George suchte nach dem passenden Wort, »… gewöhnt sich an den Zustand. Eines Tages erreicht man dann einen Punkt, wo man
aufwacht und die Dunkelheit nicht mehr ganz so dunkel erscheint. «
»Ja.« Julia nickte. »Ich habe das Gefühl, dass gestern Morgen etwas geschehen ist … und heute Morgen…« Es fiel ihr schwer zu formulieren, was sie meinte. »Du hast recht: Die Dunkelheit erscheint mir nicht mehr ganz so dunkel.«
Sie schwiegen eine Weile, bevor Julia sagte: »Bist du aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen?«
»Ja. Wie wär’s, wenn wir aus diesem düsteren Cottage raus und über die Straße ins White Horse gehen? Auf ein Gläschen Wein und frischen Fisch?«
Julia unterdrückte ihren Impuls, den Kopf zu schütteln. » Klingt gut, Dad.«
Zehn Minuten später saßen sie an einem gemütlichen Tisch beim Kamin. George bestellte zweimal Fish and Chips und holte den Wein an der Theke.
»Toller Pub hier«, erklärte er. »Eine echte Stammkneipe, besonders im Winter, ohne die Touristen.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte er die Hand aus und drückte ihren Arm. »Julia, ich bin sehr stolz auf dich. Jetzt weiß ich, dass du es schaffen wirst. Weiter so, Liebes, auch wenn mal gute und mal schlechte Tage kommen.«
»Ich gebe mir Mühe, Dad«, versprach sie.
»Worüber ich eigentlich mit dir reden wollte«, sagte George und räusperte sich, »sind die Orchideenaquarelle, die du mir geschenkt hast. Ich habe sie mit denen deiner Mutter verglichen; es besteht kein Zweifel, dass sie von ihr sind. Höchstwahrscheinlich hat sie sie in jungen Jahren
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