Orchideenhaus
gemalt.«
»Es freut mich sehr, dass ich sie entdeckt habe, Dad. Das war offenbar ein Fingerzeig des Schicksals.«
»Ja, aber es ist noch etwas anderes interessant an den Aquarellen,
oder zumindest an einem davon.« George trank einen Schluck Wein. »Ich weiß, dass deine Mutter als Kind viele Stunden bei deinem Großvater im Gewächshaus verbracht und die Blumen dort gemalt hat. Drei der Orchideen auf den Bildern habe ich als Cattleya identifiziert. Sie sind nach William Cattley benannt, den man den ›Vater‹ der britischen Orchideen nennen könnte. Ihm gelang es im neunzehnten Jahrhundert als Erstem, epiphytische Orchideen hier zu kultivieren; die meisten Orchideen, denen wir in diesem Land begegnen, stammen von den seinen ab. Doch bei der vierten Pflanze, die deine Mutter gemalt hat, ist es anders.«
»Ach, tatsächlich?«, fragte Julia, als das Essen serviert wurde.
»Ja. Wenn ihre Darstellung stimmt, und davon gehe ich nach fünfzehn Jahren Zusammenarbeit mit ihr aus, handelt es sich bei dieser Orchidee um eine Dendrobium nigum .« George brach ein Stück von dem dicken Fish-and-Chips-Teig ab. »Entweder hat deine Mutter das Bild aus einem Buch kopiert, was natürlich möglich ist und die wahrscheinlichste Lösung, oder«, fuhr er kauend fort, »diese Pflanze wuchs seinerzeit im Treibhaus ihres Vaters.«
Auch Julia begann zu essen. »Und …?«
»Nun, das letzte Exemplar einer Dendrobium nigum wurde bei einer Auktion für fünfzigtausend Pfund verkauft. Die Blüte ist einfach unglaublich; nur sehr wenige ihrer Art wurden überhaupt jemals in den Bergen von Chiang Mai in Thailand gefunden. Sie kommt der Vorstellung von einer ›Schwarzen Orchidee‹ am nächsten, auch wenn sie letztlich eher tiefrot ist. Botaniker haben es nie geschafft, sie außerhalb ihrer eigentlichen Heimat zu züchten, was sie sehr wertvoll macht. Es würde mich wundern, wenn diese Pflanze in den fünfziger Jahren den Weg in die Gewächshäuser von Wharton gefunden hätte.«
»Hat Großvater Bill Mum nicht gebeten, alle seine Aufzeichnungen abzutippen, und wurden sie nach seinem Tod nicht dir übergeben? Vielleicht findet sich darin etwas.«
»Ja«, bestätigte George. »Ich habe seit Sonntag den größten Teil meiner Zeit mit der Durchsicht der Notizen verbracht, doch diese Orchidee wird darin nicht erwähnt.« Er legte Messer und Gabel beiseite. »Dein Großvater hatte über zweihundert verschiedene Orchideenarten in seinen Treibhäusern. Über die fragliche habe ich bisher nichts herausfinden können, aber ich werde weitersuchen.«
»Darf ich kurz das Thema wechseln?«, fragte Julia. »Hat Alicia das Tagebuch erwähnt, das Kit Crawford unter den Bodendielen in dem alten Cottage gefunden hat?«
»Ja. Offenbar handelt es sich um die Schilderungen eines Kriegsgefangenen im Changi-Gefängnis in Singapur. Ich habe keine Ahnung, ob Bill während des Kriegs dort war. Die Einzige, die das wissen könnte, ist deine Großmutter Elsie. Sie hat mir letztes Weihnachten eine Karte geschrieben; es scheint ihr mit ihren siebenundachtzig Jahren noch ziemlich gut zu gehen. Warum besuchst du sie nicht mal?«
»Das wollte ich, Dad. Alicia hat mir ihre Telefonnummer gegeben, und ich habe vor, sie heute anzurufen.«
»Gut. Was gibt’s sonst für Neuigkeiten? Ich meine, abgesehen davon, dass du überlegen musst, ob du wirklich noch länger in diesem deprimierenden Cottage bleiben möchtest.«
»Du hast ja recht«, sagte Julia. »Ich habe erst in den letzten Tagen gemerkt, wie düster es ist.«
»Und es gibt so gar keinen Platz für ein Klavier …«, stellte George fest.
»Ich brauche kein Klavier. Doch wenn ich beschließe, weiter hierzubleiben, werde ich Agnes bitten, mir ein paar Dinge aus Frankreich zu schicken.«
»So ist es recht, Liebes.« George schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Aber ich muss noch eine ganze Menge E-Mails beantworten und vor morgen früh eine Vorlesung konzipieren.«
Julia wartete am Eingang des Pubs auf ihn, während er zahlte. Dann überquerten sie gemeinsam die Straße und gingen den Hügel zum Cottage hinauf.
»Liebes, es war ein unerwartetes Vergnügen«, bemerkte George und schloss Julia in die Arme. »Pass auf dich auf und melde dich.«
»Ja, versprochen.«
7
Am folgenden Morgen rief Julia Elsie an. Die alte Dame freute sich sehr, von ihr zu hören, was Julias schlechtes Gewissen noch verstärkte. Sie versprach, am Samstag zum Tee nach Southwold zu kommen. Nach dem Telefonat zog Julia sich an,
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