Orchideenhaus
Vater hatte sich bei ihrer Rückkehr in ihr früheres Haus in Surrey bitterlich beklagt, wie schwierig es sei, in diesen Zeiten gutes Personal zu finden. Immer weniger junge Frauen verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Bedienstete, behauptete er. Eine wachsende Zahl entscheide sich lieber für eine Tätigkeit als Sekretärin in einem Büro oder als Verkäuferin in einem der neuen Warenhäuser, die nun im ganzen Land eröffnet wurden.
»Mädchen wollen heutzutage niemanden mehr bedienen «, hatte er festgestellt.
Während ihrer Besuche bei Freunden ihrer Eltern auf dem Land hatte Olivia allerdings gemerkt, dass die weibliche Emanzipation in den großen Städten deutlich weiter fortgeschritten war als dort.
»Gut, M’am, ich geh jetzt runter, Ihr Abendkleid aufbügeln. Nach dem Tee komme ich herauf, lasse Ihnen ein Bad ein und zünde den Kamin an. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein danke, Elsie«, antwortete Olivia lächelnd. »Und sag doch Olivia zu mir.«
»Danke, M’am … Ich meine, Miss Olivia.« Elsie huschte zur Tür und schloss sie hinter sich.
Vor dem Abendessen fragte Elsie Olivia, ob sie ihr die Haare hochstecken dürfe, und strich ihr über die dichten blonden Locken. »Ich glaube, das würde Ihnen stehen, Sie elegant aussehen lassen, wie die Garbo. Ich habe an meiner Schwester geübt und kann das.«
Olivia nickte und setzte sich auf den Hocker vor dem Spiegel. »Gut, Elsie, ich vertraue dir.« Wenn es schiefginge, dachte sie, konnte sie die Haare immer noch lösen.
»Ich liebe das Frisieren und wollte eine richtige Ausbildung machen, aber der nächste Salon ist über zwanzig Kilometer weg, und ich hab keine Möglichkeit hinzukommen. Es gibt nur einen einzigen Bus am Tag, der fährt um elf von Gate Lodge ab. Das nützt mir wenig«, erklärte Elsie, während sie geschickt Olivias Haare bürstete und hochsteckte.
»Könntest du dir vorstellen, in die Stadt zu ziehen?«, fragte Olivia.
Elsie sah sie entsetzt an. »Was? Meine Ma und meine Geschwister allein lassen? Sie braucht meine Hilfe und das Geld, das ich verdiene. Fertig.« Elsie trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Wie gefällt es Ihnen?«
»Danke, Elsie«, sagte Olivia mit einem Lächeln. »Das hast du sehr gut gemacht.«
»Nichts zu danken, Miss Olivia, es war mir eine Ehre. Darf ich Ihnen jetzt beim Schnüren des Korsetts helfen?«
»Du bist wirklich ein Schatz, Elsie«, antwortete Olivia. »Offen gestanden habe ich keine Ahnung, wie man es anlegt. Ich habe noch nie eins getragen und stelle mich wahrscheinlich ziemlich dumm an.«
Elsie nahm das Korsett vom Bett und begutachtete es. »Ein
modisches ›Wespentaillenkorsett‹«, erklärte sie voller Bewunderung. »Das kenne ich aus Woman’s Weekly . Angeblich verleiht es die perfekte Figur. Ich glaube, ich weiß, wie es funktioniert. Keine Sorge, Miss Olivia, gemeinsam schaffen wir das schon.«
Als das Korsett an Ort und Stelle war, glaubte Olivia, keinen Platz mehr für eine einzige Olive, geschweige denn ein viergängiges Menü zu haben. Elsie schob das neue nachtblaue Brokatkleid über ihren Kopf und schloss es am Rücken.
Olivia glättete den Rock, der sich unter ihrer zusammengeschnürten Taille bauschte, und musterte sich im Spiegel.
Haar, Korsett und Kleid hatten eine vollkommene Verwandlung bewirkt. Aus dem Spiegel sah sie kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau an.
»Mein Gott, Miss Olivia, sind Sie hübsch! Die Farbe passt genau zu Ihren Augen. Heute werden sich ein paar Leute nach Ihnen umdrehen, so viel steht fest. Hoffentlich sitzen Sie neben Master Harry, dem Sohn von Seiner Lordschaft. Wir Mädchen sind alle ein bisschen verliebt in ihn«, gestand Elsie. »Er ist wirklich attraktiv.«
»Bei meinem Glück sicher nicht. Ich bekomme bestimmt den alten Major mit dem Bauch, den ich beim Nachmittagstee kennengelernt habe.« Olivia runzelte lächelnd die Stirn.
Die beiden Mädchen teilten einen Augenblick des stillschweigenden Verständnisses, das die Klassenschranken überwand.
»Ich hoffe nicht, Miss Olivia.Viel Vergnügen heute Abend.«
An der offenen Tür wandte Olivia sich noch einmal um. »Danke, Elsie, du hast mir wirklich sehr geholfen. Später erzähle ich dir alles«, versprach sie mit einem Augenzwinkern, bevor sie den Raum verließ.
Olivia war nicht die Einzige, der vor dem Abendessen graute. Harry Crawford hatte insgeheim beschlossen, dass es keine Jagdgesellschaften mehr geben würde, wenn er Wharton
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