Orchideenhaus
da« – sie deutete auf das Tagebuch – »zu sehen. Ich dachte, Bill hätte es verbrannt. Das hatte ich ihm geraten, damit kein Fremder es findet, denn das würde zu nichts Gutem führen…« Ihr Blick schweifte ab.
Julia wartete auf eine Erklärung.
»Tja…« Elsie sammelte sich. »Wahrscheinlich fragst du dich, was los ist. Jemand hat dieses Tagebuch entdeckt und es
dir gegeben. Ich könnte dich anlügen, aber das halte ich nicht für richtig. Nicht mehr.«
»Oma, bitte erzähl mir alles. Falls es sich um ein Geheimnis handelt, halte ich den Mund. Das konnte ich schon als Kind.«
Elsie streichelte lächelnd Julias Wange. »Ich weiß, Liebes. Doch leider gestaltet sich die Sache nicht so einfach. Es handelt sich um ein Familiengeheimnis, dessen Enthüllung mehrere Leute aus der Fassung bringen würde.«
Das machte Julia sehr neugierig. »Wen? Es sind doch nur noch Dad, Alicia und ich übrig.«
»Manchmal betreffen solche Geheimnisse mehr als eine Familie. Aber egal«, meinte Elsie. »Wahrscheinlich fange ich am besten ganz von vorn an und sehe dann schon, wohin es führt.«
Julia nickte. »Tu, was du für richtig hältst. Ich höre einfach zu.«
»Ich warne dich: Es könnte eine Weile dauern. Die Geschichte beginnt mit meiner Ausbildung zur Zofe im Jahr 1939 im Großen Haus. Ach«, rief Elsie aus und klatschte in die Hände, »damals hättest du Wharton nicht erkannt, Julia. Bei den Crawfords war immer etwas los. In der Jagdsaison haben sie fast jedes Wochenende ein Fest veranstaltet. Einmal kamen Freunde aus London, um deren achtzehnjährige Tochter Olivia Drew-Norris ich mich kümmern sollte. Sie war meine erste ›Lady‹.« Elsies Augen begannen zu glänzen. »Julia, ich werde mein Lebtag nicht vergessen, wie ich sie im Magnolienschlafzimmer das erste Mal gesehen habe …«
9
Wharton Park, Januar 1939
Olivia Drew-Norris trat an das Fenster des großen Zimmers, in das sie soeben geführt worden war, und sah hinaus. Beim Anblick des grauen Himmels seufzte sie tief.
Es war, als hätte jemand bei ihrer Ankunft in England zwei Monate zuvor die hellen, warmen Farben gelöscht und sie durch verschwommenes Schlammbraun und -grau ersetzt.
Die karge Landschaft und der Nebel, der sich bereits kurz nach drei Uhr auf die Felder senkte, ließen sie erschaudern und gaben ihr ein Gefühl geistiger Leere.
Vor Kälte zitternd entfernte sie sich vom Fenster.
Olivia wusste, dass ihre Eltern sich freuten, wieder in England zu sein, weil diese grässlich feuchte Insel ihre Heimat war. Doch Olivia empfand anders. Sie hatte seit ihrer Geburt keinen einzigen Tag außerhalb Indiens verbracht.
Sie konnte nicht verstehen, wie die Gespräche im Club oder bei Abendeinladungen im Haus ihrer Eltern in Poona sich stets nostalgisch um England hatten drehen können. Sie selbst fand die Insel nicht attraktiv. Alle beklagten sich über die Hitze in Indien, aber immerhin musste man dort die Nacht nicht in mehrere modrig riechende Schichten gewickelt verbringen und warten, dass die Füße endlich warm wurden. Olivia litt seit ihrer Ankunft permanent unter Schnupfen.
Sie sehnte sich nach den Düften und Klängen ihres Geburtslandes – reife Granatäpfel, Weihrauch, das Öl, das ihre Ayah für ihr langes, schwarzes Haar verwendete; der Gesang der Bediensteten im Haus, das Lachen der Kinder in den staubigen Straßen der Stadt, das Rufen der Händler auf dem
Markt. Was für ein buntes, lebhaftes Bild, und welch ein Gegensatz zu diesem stillen, tristen Land.
Nach der Vorfreude auf die »Heimkehr« fühlte Olivia sich nun niedergeschlagener und elender als je zuvor in ihrem Leben.
Und das Schlimmste: Sie hätte in Poona bleiben können, als ihre Eltern nach England zurückkehrten, wenn sie eindeutiger auf die Avancen jenes rotgesichtigen Oberst reagiert und ihm gestattet hätte, um sie zu werben.
Aber er war so schrecklich alt, mindestens fünfundvierzig, und sie erst achtzehn.
Außerdem hatte sie in den heißen Nächten, in denen an Schlaf nicht zu denken war, englische Romane von Jane Austen und den Brontë-Schwestern gelesen, die in ihr den Glauben an die »wahre Liebe« reifen ließen.
In den folgenden Monaten würde sie die Londoner Saison absolvieren und heiratsfähigen jungen Männern vorgestellt werden. Unter ihnen würde sie wohl ihren Mr. Darcy finden.
Das war ihr einziger Hoffnungsschimmer im düsteren Nebel – aber, da machte Olivia sich nichts vor, höchst unwahrscheinlich. Die jungen britischen Männer, die sie
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