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Orchideenstaub

Orchideenstaub

Titel: Orchideenstaub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Pleva
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aufzuspüren. Er ging strategisch vor und Sam hatte das Gefühl, dass alles, was bisher geschehen war, nur ein kleines Vorspiel gewesen war. Der König stand auf seinem Platz und war noch im Spiel.
     
     

30.
     
     
     
    KOLUMBIEN   Lea war heute zur Visite ins Heim gefahren. Es gab einen Neuzugang, den sie sich anschauen wollte. Außerdem fühlte sie sich verpflichtet, ab und zu nach dem Rechten zu sehen, solange ihr Bruder noch auf Reisen in Europa war. Bei der Gelegenheit wollte sie mal nach ein paar Patienten fragen, die letztes Jahr verstorben waren, vor allem nach dem kleinen Jungen Alfonso Villegas.
    Sie streifte sich ihren weißen Arztkittel über, hing sich das Stethoskop um den Hals und nahm die oberste Rapportkarte vom Tisch. Lea zog die Stirn kraus, als sie die Zeilen überflog.
    Schon im Gang hörte sie seltsame Geräusche, die von irgendeinem der Patientenzimmer zu kommen schienen und je näher sie sich auf die Quelle zubewegte, desto deutlicher wurde es. Doch Lea war immer noch im Zweifel, ob sie ihren Ohren auch wirklich trauen konnte. Gackagackgack… gackgaaaack…gackgaaaaack. Es hörte sich an, als würde jemand ein paar Hühner durch das Zimmer jagen. Sie lauschte eine Weile an der Tür, bevor sie schließlich eintrat.
    Zwei Pflegerinnen waren gerade damit beschäftigt, eine Frau mit riesigen flachen Hängebrüsten und einem völlig deformierten Körper auf dem ein viel zu kleiner Kopf saß zu waschen. Ihre kleinen hellblauen Augen gingen flink hin und her und dabei gab sie Laute von sich wie ein aufgeregtes Huhn.
    Lea machte ein Gesicht als hätte man sie geohrfeigt. Erst der genervte Blick von Schwester Rosa, die versuchte die Patientin unter den flatternden Armen zu waschen, holte sie zurück. In ihrer ganzen Zeit als Ärztin hatte sie noch nie einen ähnlichen Fall gesehen.
    Ein Pfarrer hatte die junge Frau  - Ella nannte man sie -  bei einem Hausbesuch im Hühnerstall entdeckt. Seit ihrer Geburt - fünfundvierzig Jahre waren seitdem vergangen - hatten die Eltern Ella dort versteckt gehalten. Da der Hühnerstall aber nur ein Meter zwanzig hoch war, hatte das Kind mit den Jahren eine gebeugte Haltung annehmen müssen, der Grund für ihren gekrümmten Rücken.
    Unbewusst legte Lea den Kopf etwas schief, und betrachtete Ella. Auf den schmalen Schultern saß ein dünner langer Hals und ein kleiner Kopf, der immer nach hinten und vorne schnellte. Danach ging es übergangslos ausladend nach unten bis zum Becken aus dem ein paar spindeldürre kurze Beinchen herausragten. Ein menschliches Huhn. Phänomenal, dachte sie. Dieses Menschenkind hatte sich an seine Umgebung und an die Tiere, die mit ihm gelebt hatten, angepasst.
    Lea war schnell klar, dass diese junge Frau an Idiotie litt, mal wieder ein typischer Inzestfall.
    Schwester Rosa verließ den Raum und Nathalia, die andere Schwester räumte auf und bezog das Bett für Ella, die jetzt einen rosa Kittel trug.
    „Wo ist eigentlich der kleine Alfonso Villegas geblieben? Ist er wieder zur Pflege nach Hause gegangen?“, fragte Lea nebenbei, als wüsste sie nichts von dem Eintrag im Planer ihres Bruders.
    Nathalia war seit zwei Jahren hier, sie war gerade mal zwanzig Jahre alt, hatte eine Schwesternschule absolviert und war gleich im Heim angenommen worden. Sie war stets freundlich und zuvorkommend, aber auch sehr still. „Wussten Sie nicht, dass er im Dezember kurz vor Weihnachten gestorben ist?“
    „Oh tatsächlich?“ Lea hoffte, dass sie die Überraschung gut spielte. „Woran ist er denn gestorben?“
    „Sie haben gesagt: Nierenversagen.“
    Nathalia warf Lea einen Blick zu, den sie nur schwer deuten konnte. Sie haben gesagt … sollte das implizieren, dass es nicht der Wahrheit entsprach? Wenn sie das Mädchen auf ihrer Seite hätte, könnte sie noch weitere Fragen stellen. Sie war sich nicht ganz sicher.
    „Es gab letztes Jahr ziemlich viele Todesfälle hier?“, bemerkte sie lakonisch, während sie etwas auf das Krankenblatt schrieb.
    „Ich weiß nicht. Manchmal sind es mehr, manchmal weniger, nicht wahr, Doña Lea?“ Wieder dieser Blick.
    Die Hühnerfrau lief aufgeregt im Zimmer herum und gab erneut diese gackernden Laute von sich.
    „Wo sind denn eigentlich die Akten von den Verstorbenen?“
    „Doña Lea, ich habe …“
    In diesem Moment ging die Tür auf und Schwester Rosa betrat wieder den Raum. Sie hatte etwas zu Essen für die Hühnerfrau dabei, die bei dem Anblick anfing zu glucksen. Rosa arbeitete seit etwa zehn Jahren

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