Orchideenstaub
verloren und taub war, konnte für Zerrissenheit und Gefühlsarmut stehen. Die Basis für fehlende Empathie, mit der die Opfer versachlicht und zu reinen Objekten wurden.
Das zweite Gedicht war Rafael vor dem Mord an seiner zweiten schwangeren Frau Clara geschickt worden.
Juri wurde für einen Moment von einer hübschen Kellnerin abgelenkt, die Kaffee in beide Tassen füllte.
„Seit wann trinkst du Kaffee?“
„Seitdem mich diese schönen kaffeebraunen Augen verzaubert haben.“
Die Kellnerin lächelte verlegen und ging unter dem Blick von Juri an den nächsten Tisch.
„Hier spielt die Musik, Juri!“, sagte Sam und las das nächste Gedicht vor.
Dem Staube entflogen, auf Suche nach Licht
Es scheint warm und nahe, doch greift man es nicht.
Die Welt so riesig, die Federn noch zart
Doch Sturm, Nacht und Regen machten sie hart.
Der Vogel stieg hoch auf, schrie laut, schrill und frei
Doch Dunkelheit quoll aus dem Federkleid.
Verlassen und quälend versandet die Zeit.
Juri stöhnte auf. „Ich bin im Urlaub, Sam, vergiss das nicht.“
„Dem Staube entflogen, auf Suche nach Licht“, wiederholte Sam die erste Zeile.
„Vielleicht hat er sich von seinem Zuhause, das nicht sein richtiges war, losgelöst und hat irgendwann seine wahren Wurzeln erkannt, aber die waren für ihn, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreichbar. Trotz allem hat ihn das Leben hart gemacht. Verlassen und quälend versandet die Zeit … also spontan fällt mir da jetzt nichts zu ein. Sorry.“
„Wir haben es hier ganz klar mit einer entwurzelten Persönlichkeit zu tun, die Verlassenheitsängste hat und sich verloren fühlt. Ein existenzbedrohendes Gefühl, das er mit Allmacht kompensiert.“
Juri lächelte verschmitzt. „Ich habe mal gelesen, dass das Motiv bei acht von zehn Fällen einen sexuellen oder aber einen finanziellen Bezug hat. Was ist mit den anderen? Was treibt die an?“
„Liest du heimlich Bücher über das Profiling?“ Sam fühlte sich irgendwie geschmeichelt. Juri könnte das Zeug dazu haben, er war aufmerksam, intuitiv und lernte schnell.
„Sie wollen ihre Beziehungs- oder generellen Alltagsprobleme beseitigen. Eins aber haben alle gemeinsam. Sie gieren nach Macht.“
„Und was würdest du sagen, trifft das auf unseren Mann zu?“
Auf die Frage hatte Sam gewartet und er war immer wieder zum gleichen Schluss gekommen. „Ich denke er ist nur von Rache getrieben. Die Morde an den Ehefrauen sind zu einer Mission geworden, seiner eigenen Lebensphilosophie. Deshalb hat er auch von langer Hand alles geplant. Wenn es nicht Rafael selbst ist, muss der Täter über jeden seiner Schritte Bescheid wissen, was wiederum bedeutet, dass er sich in seinem näheren Umfeld bewegt.“
„Okay gehen wir davon aus. Es ist nicht Rafael, sondern jemand anderes, dann verstehe ich nicht, warum er die anderen Frauen in Deutschland auch so bestialisch umgebracht hat.“
„Weil da ein Zusammenhang besteht. Und das ist die Vergangenheit der Naziväter, die was auf dem Kerbholz haben.“
„Apropos, konntest du seinem Vater schon auf den Zahn fühlen?“
„Bisher habe ich ihn nur beobachtet und mir eingebildet, dass bei dem Namen Kreibich etwas in seinen alten Zellen zu arbeiten anfing. Er spricht nur Spanisch, nirgendwo waren Anzeichen davon, dass er einen Bezug zu Deutschland hat. Keine deutschen Bücher, keine alten Fotos …“
„… kein bayrischer Humpen?“, fragte Juri lachend.
„Und keine deutsche Reichsflagge“, konterte Sam. „Nein. Nichts. Rein gar nichts, was seine Herkunft verraten könnte.“
Juri nahm sich das dritte Gedicht vor.
Die Glut, die noch schwach, sie wird bald stark und groß.
Pulsierend und glühend versengt sie den Schoß.
Das Feuer, es schießt aus des Berges Gruft
Brüllend und fauchend versenkt es die Luft.
Es tötet die Bäume, die Vögel, das Licht
Zerstört Eure Welt, in die es jetzt bricht.
Im Dunkeln erstarkt aus eigener Kraft
Der Welt des Verlassens den Ausstieg verschafft.
„Das ist eine eindeutige Kampfansage, würde ich sagen.“
„Sehe ich ähnlich“, bestätigte Sam. „Er hat in jedes Gedicht ein Element eingefügt. Wasser, Luft und Feuer.“
„Ja, im ersten wird er von Wasser kalt umschlossen, ertrinkt beinahe, überlebt nicht, aber Wasser spendet auch Leben“, interpretierte Juri. „Luft steht für Leichtigkeit, Atmen, Freiheit. Keine Ahnung. Und Feuer ist die reinste Zerstörung. Meinst du er ist tatsächlich so tiefsinnig?“, fragte
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