Orchideenstaub
trocken.
Thiel schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich war doch nur ein Handlanger, mehr nicht“, verteidigte er sich. „Ich war jung, bin nur den Befehlen meiner Vorgesetzten gefolgt. Ich wollte ein großer Arzt werden und habe meine Chance damals dort in den Baracken gesehen. Sie müssen doch zugeben, dass die Medizin noch nie so schnell vorangekommen war wie zu Hitlers Zeiten. Und das nur, weil wir so viel Material zur Verfügung hatten.“
Material nannte er die Menschen, an denen sie Experimente durchgeführt hatten. Sam biss die Zähne aufeinander. Am liebsten hätte er diesen alten Mann sein Gebiss schlucken lassen, das sich ständig löste und beim Sprechen klapperte.
Der Himmel verdüsterte sich für einen Augenblick. Als Sam nach oben sah, war er jedoch so blau und wolkenlos wie bisher. Nur ein einsamer schwarzer Geier kreiste hoch über Bäumen. Wie sollte er weiter vorgehen, um nicht den Verdacht zu erregen, dass er gar nicht wusste, weshalb Heinrich Thiel überhaupt gesucht werden sollte? Am besten war, ihm selbst die Frage zu stellen. „Wie meinen Sie, lautet die Anklage?“, tastete sich Sam weiter vor.
„Das müssen Sie mir schon sagen.“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich bin unschuldig. Ich war ein nichts ahnender Bengel, habe zu dem Meister aufgeschaut und versucht ihm zu Pläsieren. Dafür habe ich bei experimentellen Operationen mitgeholfen, habe lebenswichtige Organe entfernt und studiert, wie lange Menschen ohne sie überleben konnten. Ich habe Tote ausgekocht, damit ihre Skelette zum Studieren benutzt werden konnten. Wie Sie selbst sehen können, hat alles der Menschheit gedient.“
„Gehörten dazu auch, Wirbelsäulen zu durchtrennen und Menschen die Haut bei lebendigem Leib abzuziehen?“, fragte Sam kühl, und beobachtete Thiel jetzt genau, dessen Selbstsicherheit plötzlich verflogen war.
„Nun“, begann er und machte eine kleine Pause. „Daran kann ich mich im Einzelnen nicht mehr so erinnern. Außerdem hat der Blitzschlag vor Jahren mein Erinnerungsvermögen geschwächt.“
Rafael hatte ihm von dem Unfall erzählt, und dass sein Vater seitdem unter Muskelschwund und plötzlich auftretenden Lähmungserscheinungen im Gesicht und in den Extremitäten litt, weshalb er es auch vorzog, im Rollstuhl zu fahren, obwohl das gar nicht immer nötig war. Die Spätfolgen eines solchen Unfalles wurden meist unterschätzt. Gedächtnisprobleme, Sinnesverluste oder auch Persönlichkeitsveränderungen waren nur einige davon. Ob das nun alles auf den alten Mann zutraf, bezweifelte Sam jedoch. Es war in seinem Fall natürlich vorteilhaft, sich nicht mehr an Einzelheiten aus seiner Vergangenheit zu erinnern.
„Es gibt ein paar Aufnahmen von Ihnen und Ihrem exklusiven Ärzteteam vor den Toren Ihres Heimes.“
„Was für ein Team?“ Thiel schien zu überlegen. Sein Unterkiefer rutschte hin und her. Seine eh schon schmalen Lippen verschwanden nun ganz in seinem zusammengekniffenen Mund.
„Na schön, da scheint der Blitz ja auch ein ziemlich großes Loch in ihr Hirn gebrannt zu haben … Ich habe mit Steiner und Rewe gesprochen …“
Jetzt sah Thiel wirklich verwundert aus.
„Was? … Ich dachte, die sind tot.“
Sam lächelte, anscheinend musste man dem alten Mann nur ein bisschen auf die Sprünge helfen, damit er sich erinnerte.
„Ich meinte die Junioren. Und irgendjemand scheint sich an den Nachfahren ihres speziellen Ärzteteams zu rächen. Ich bin sicher, Sie können mir den Grund dafür nennen?“
Ein Wagen fuhr auf die Auffahrt und hielt vor der Finka.
Rafael stieg aus. Er bemerkte Sam nicht, der ihn über einen Busch hinweg beobachten konnte. Er machte ein paar Schritte aufs Haus zu. Dann sah er auf etwas in seiner Hand, ging wieder zurück zum Wagen und bückte sich bei der Fahrertür. Als er wieder hochkam, zog er seine Hose zurecht, überprüfte sein Aussehen im Seitenspiegel und betrat das Haus.
„Mein Sohn ist nach Hause gekommen. Außerdem bin ich müde, reden wir einen anderen Tag weiter.“ Er drückte auf einen Knopf und der Rollstuhl setzte sich in Bewegung.
Sam folgte ihm.
Der Geruch von Gebratenem lag in der Luft, als sie durch die Tür traten.
Rafael kniete vor seiner Mutter, die eingesunken in einem Sessel saß und sich die Augen mit einem weißen Stofftaschentuch trocknete. Mit einem Blick hatte Sam die ganze Situation erfasst. Er wusste sofort, dass seine Ahnung, Vermutung oder Befürchtung von heute morgen Wirklichkeit geworden war.
Thiel fuhr auf die
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