Orchideenstaub
er skeptisch.
Sam zuckte mit den Schultern. Tiefsinnig oder nicht, sie hatten es auf jeden Fall mit einem diabolischen Charakter zu tun. Mit einem Menschen mit ungezähmter Boshaftigkeit, der kalt und seelenlos war.
53.
Am Nachmittag fuhr Sam wieder zurück auf die Finka.
Rafael war immer noch nicht eingetroffen. Auch zum Mittag war er nicht erschienen, wie er von der Angestellten im Haus erfuhr.
Diego Rodriguez saß in seinem Rollstuhl im hinteren Teil des Gartens vor einem im Schatten liegenden Feld voller roter Anturiusse. Sam konnte ihn aus dem einen Fenster seines Gästezimmers sehen. Es sah fast aus wie ein Stillleben. Nichts bewegte sich.
Sam schlenderte, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, durch eine Art Laubengang und blieb neben dem alten Mann stehen. Beide sagten eine Weile nichts, dann entschloss sich Sam, nach alter Gewohnheit schnörkellos zum Punkt zu kommen. „Ich habe Ihre Tochter Doris in München getroffen.“
Ein unmerkliches Zucken ging durch die schweren Lider, dann sagte der alte Mann bestimmt: „Ich habe keine Tochter die Doris heißt.“ Sein Blick wanderte wieder zu dem roten Blumenfeld zurück.
„Sie ist überzeugt davon, dass Sie tot sind … Ich glaube, es hat sie damals nicht sehr tangiert, von Ihrem Tod zu erfahren.“ Sam setzte sich auf einen großen Stein und strich über die raue löchrige Oberfläche. „Wenn man ein Kind im Stich lässt, nimmt es einem das ein Leben lang übel. Nichts auf der Welt kann diese Wunde des Alleingelassenseins wieder heilen. Man trägt sie ein Leben lang mit sich herum.“
In die wässrig grau-blauen Augen seines Gegenübers kam Bewegung. Sie wanderten unruhig hin und her. „Ich habe keines meiner Kinder im Stich gelassen, was erlauben Sie sich überhaupt.“
„Wissen Sie, warum sie keine Ärztin werden wollte? Sie hat gesehen, wie viele Menschen unter Ihren Händen gestorben sind. Das hat ihr Angst gemacht … Man könnte sagen, Sie haben einen guten Eindruck hinterlassen, Herr Thiel.“
Endlich sah der Mann Sam direkt an. „Ich heiße nicht Thiel, ich heiße Diego Rodriguez Guerra.“ Doch irgendwie schwand die Kraft aus dem alten Mann, sein Ton war weniger energisch.
„Man hört es zwar kaum, und ich dachte erst, es ist der hiesige Akzent, aber Ihr R klingt manchmal zu kehlig, zu deutsch. Hören wir also auf Spielchen zu spielen.“
„Kreibich starb 1985 an Darmkrebs in einer Buschklinik in Brasilien. Wir hatten bis zuletzt Briefkontakt. Er war nie verheiratet gewesen und von einem Sohn hat er mir nie etwas erzählt und wie ein Bastard einer brasilianischen Hure sehen Sie nicht aus. Wie heißen Sie also richtig?“
„Sam O´Connor.“
Heinrich Thiel sah wieder auf die Anturiusse mit ihren knallroten geäderten Blättern, die in ihrer Pracht beinahe künstlich aussahen. „Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste sie zurücklassen“, sagte er fast sanftmütig. „Ich habe ihr unzählige Briefe geschrieben, aber sie hat nie geantwortet.“
„Wäre es nicht unauffälliger gewesen, wenn Sie mit Ihrer Tochter gereist wären?“
„Wahrscheinlich wäre sie dann heute nicht mehr am Leben.“ Thiel erzählte ihm, wie er in einem Zuckerrohrfeld angeschossen worden war und seinen Verfolger überwältigen konnte. Mit seiner Tochter hätte er keine Chance gehabt. Er stieß einen lauten Seufzer aus. „In den letzten Jahren habe ich nicht mehr geglaubt, dass noch jemand an mir Interesse haben könnte. Immerhin sind nun fast siebzig Jahre vergangen. Ich weiß, es ginge rein um den symbolischen Charakter, Leute wie mich noch vor den Richter zu zerren. Dank dieser großartigen Erfindung wie das Internet, konnte ich immer mal wieder die Nachrichten im Ausland verfolgen. Wie ich gesehen habe, haben sie Dr. Tod oder den Schlächter von Mauthausen immer noch nicht erwischt. Obwohl man sagt, dass er seit zwanzig Jahren tot ist.“
„Ja, ein ähnlicher Fall wie der Ihre. Es gibt nur irgendwelche zwielichtigen Dokumente und der Informationsaustausch mit den Kairoer Behörden funktioniert wahrscheinlich ähnlich wie hier?“
„Wussten Sie eigentlich, dass von etwa zweihunderttausend Deutschen und Österreichern, die am Holocaust beteiligt waren, nur sechstausendfünfhundert verurteilt wurden?“
Diese Daten und Zahlen waren Sam nicht bekannt gewesen, trotzdem gab er ein enttäuschtes Nicken von sich. „Und um die Zahl noch etwas zu erhöhen, macht man immer noch Jagd auf Kriegsverbrecher, wie Sie“, entgegnete er
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