Organic
besuchen sie mich noch, aber zunehmend weniger, seitdem ihre Mutter gestorben ist. Oh ja, ich habe mich vierzig Jahre lang gut um Miss Emily gekümmert, und im Gegenzug hat sie dafür gesorgt, dass es mir heute an nichts fehlt.“
Es war das erste Mal, dass Sabrina die alte Dame so viel von ihrer Vergangenheit erzählen hörte. Sabrina hatte es auch nie interessiert, warum sie so gut versorgt war. Sie wusste, dass Miss Sadie nicht verheiratet gewesen war und keine Kinder hatte. Jetzt verstand Sabrina, warum das so war. Sie hatte ihr ganzes Leben lang für eine andere Familie gesorgt, und in der knappen Erklärung war kein bisschen Bedauern darüber mitgeschwungen. Es war viel mehr als nur eine Arbeit gewesen. Das war unübersehbar. Miss Emily war nicht nur Miss Sadies Arbeitgeberin gewesen, sondern ihre Familie.
Vielleicht hatte sie das zueinandergeführt. Zwei Frauen, die nach einem Ersatz für die Familie suchten, die sie so sehr vermissten. Außerdem erklärte es, warum Miss Sadie gewohnt war, Verantwortung zu übernehmen und sich um andere zu kümmern.
Sabrina hatte die Schilder gesehen, die auf die Interstate 10 in Richtung Pensacola verwiesen, aber Miss Sadie hatte ganz offenbar nicht vor, die Interstate zu benutzen. Die Gegend, durch die sie fuhren, kam Sabrina kein bisschen bekannt vor, was sie aber auch nicht erwartet hatte. Als sie jedoch die Stadt immer weiter hinter sich ließen und die Dunkelheit sich über sie senkte, kehrte ihre Panik zurück. Panik und jetzt auch Schuldgefühle, weil sie Miss Sadie in die Angelegenheit hineingezogen hatte. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wovor sie eigentlich davonrannte. Und ob Wegrennen überhaupt die richtige Entscheidung war.
Plötzlich spürte Sabrina, wie das Auto seine Fahrt verlangsamte. Weiter vorne sah sie aufblitzende Lichter in Blau und Rot, dann kurbelte Miss Sadie ihr Fenster nach oben. Sogar Lizzie verließ ihr Plätzchen und sprang auf die Kühlbox zwischen ihr und ihrer Herrin. Ihr Schwanz zuckte von links nach rechts.
„Ist da eine Straßensperre?“, fragte Sabrina. Sie war längst überzeugt, dass die Polizei bereits landesweit nach ihr fahndete.
„Ich glaube nicht“, antwortete Miss Sadie flüsternd. Es klang so verschwörerisch, als wolle Miss Sadie sie ein bisschen auf den Arm nehmen.
Zwar war auf der Straße ein Polizist erkennbar, aber die Schlange von Autos war so lang, dass Sabrina überlegte, ob sie nicht einfach umdrehen sollten. Wie ernst meinte es die Polizei? Würden sie die Verfolgung aufnehmen? Aber sie konnte Miss Sadie wohl kaum darum bitten, so eine Jagd zu riskieren. Mit ihrem festen Griff ums Lenkrad hatte sie schon Mühe, am Tempolimit dranzubleiben.
Als sie der Sperre allmählich näher kamen, stellte Sabrina fest, dass sie völlig falsch lag. Zwei Autos waren ineinandergerast, und ein drittes lag auf der Seite im Straßengraben. Es gab keine Fahndung und keine Straßensperre. Aber während sie den Anweisungen des Polizisten folgten und vorsichtig an der Unfallstelle vorbeifuhren, verspürte Sabrina keine Erleichterung. Stattdessen ergriff sie erneut die Panik. Sie musste an ihren Unfall am Abend zuvor denken. Denn zum ersten Mal wurde ihr klar, dass es gar kein Unfall gewesen war.
56. KAPITEL
Es war vermutlich reine Zeitverschwendung, aber Leon fuhr trotzdem beim Häuschen dieser Galloway vorbei. Er hatte sich am Flughafen herumgetrieben, halb in der Erwartung, sie dort zu sehen. Aber sobald die Polizei dort aufgetaucht war, hatte er sich verzogen.
Jetzt war er ein paar Straßen von ihrem Haus entfernt und wurde von einem 1947er Studebaker abgelenkt. Fast wäre er hinterhergefahren, nur um sicherzugehen. Das Auto war eine echte Show.
Direkt vor dem Haus der Galloway parkten zwei Polizeiwagen. Leon fuhr langsam vorbei und rollte in die Auffahrt des einzigen Hauses, das nicht wie alle anderen hell erleuchtet war. Im Vorgarten der Galloway blitzten Taschenlampen auf. Damit würden sie zumindest nicht über irgendwelche verdammten Katzen stolpern wie er neulich nachts. Leon zählte drei Beamte, aber keiner brach die Tür auf. Vermutlich hatten sie nicht genug vorzuweisen für einen Hausdurchsuchungsbeschluss.
Aber wo zum Teufel war Sabrina Galloway? Und was lief hier schief, verdammt noch mal? Wieso war sie nicht auf diesem Scheiß-Steg in der Fabrik gewesen?
Die State Patrol würdigte ihn keines Blickes, also setzte er wieder rückwärts aus der Auffahrt und fuhr wieder Richtung Tallahassee. Ein paar Straßen
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