Organic
Sadie.
Schweigend fuhren sie weiter und schauten durch die Windschutzscheibe nach draußen. Sabrina legte den Kopf auf die Arme. Bei jedem Schein eines entgegenkommenden Fahrzeugs versuchte sie einen Blick auf Miss Sadies Gesicht zu erhaschen, als könne sie darauf ihre Gedanken ablesen. Aber die Miene der alten Dame schien völlig ausdruckslos, sie hatte den Blick nach vorn gerichtet, nur auf die Straße konzentriert. Sabrina war klar, dass die traumatischen Erlebnisse ihr Einschätzungsvermögen in Mitleidenschaft gezogen hatten. Aber vielleicht verließ sie sich ein wenig zu sehr auf die Hilfe und den Ratschlag ihrer Freundin. Miss Sadie war schließlich trotz allem eine Frau von einundachtzig Jahren.
Es schienen ein paar Minuten vergangen zu sein, als die alte Dame schließlich sagte: „Ihr Daddy würde wollen, dass Sie in Sicherheit sind. Es hat keinen Sinn, zu ihm und damit vielleicht in eine Falle zu gehen. Und dort hinzufahren oder auch nur anzurufen könnte genau das bedeuten.“
58. KAPITEL
Dienstag, 13. Juni
Pensacola Beach, Florida
Als Eric Galloway zu seiner Wohnung zurücklief, ging die Sonne gerade auf. Obwohl er müde war, nahm er den Umweg über den Yachthafen. Die meisten Menschen lagen noch im Bett, und daher war dies eine seiner liebsten Tageszeiten. Kein Verkehr. Kein Gehupe. Keine kichernden Teenager. Am Strand war es vollkommen ruhig, nur die Wellen donnerten ans Ufer und die Möwen kreischten, genau so wie es sich für seinen Geschmack gehörte.
Eric war in Chicago am Lake Michigan aufgewachsen, daher war er daran gewöhnt, Möwen, Strand und Schiffe um sich herum zu haben. Aber dort zog man sich im Winter davon zurück. Hier dagegen gehörte all das zum Leben. Und an dieses Leben konnte er sich durchaus gewöhnen. Komisch, aber das hatte er noch über keinen Ort sagen können und immer sein rastloses Wesen und seine Abenteuerlust dafür verantwortlich gemacht.
Seine Mokassins trug er in der Hand, weil er das Gefühl des weißen Sandes zwischen den Zehen mochte. Zu dieser frühen Morgenstunde war er noch ganz kühl. Eric vermied den Blick in die Ferne, wo zu viele Stahlkräne und Abrissbirnen aus vom Sturm zerstörten Industrie- und Wohnbauten ragten. Es war schon Jahre her, aber noch immer waren Dächer mit blauen Planen abgedeckt, und in vielen Häusern lag der Sand noch meterhoch. Viele Eigentümer befürchteten, dass nach der Reparatur und Instandsetzung gleich die nächste katastrophale Hurrikansaison hereinbrechen könnte.
Erics Chef Howard erinnerte die Leute gern daran, dass Pensacola Beach eigentlich eine Art Sandbank war, die vermutlich vor langer Zeit von Hurrikans gebildet worden war. Howard, der Philosoph, meinte dann immer: „Was diese Sandbank einst erschaffen hat, ist stets auch ihr potenzieller Feind gewesen.“
Eric war zu Zeiten der Hurrikane Ivan und Dennis noch nicht hier gewesen, aber er blieb geduldig sitzen und ließ die Geschichten über sich ergehen. Er kam sich dann ein bisschen vor wie ein Kriegsberichterstatter, der sich in die Situation hineinzufühlen und sie zu verstehen versucht, aber nie in der Lage ist, die Verluste und die Not derer wirklich nachzuempfinden, die sie erlebt haben. Er hatte von Plünderungen am Strand gehört und von Hausbesitzern, die über Monate nicht nach Hause hatten zurückkehren können. Aber er hatte auch von der Hilfsbereitschaft der Nachbarn gehört, die von überallher kamen, um Bäume zu fällen, Straßen frei zu räumen, Bootsstege aus Vorgärten zu bergen und Boote aus Wohnzimmern zu tragen.
Die alteingesessenen Einheimischen, die schon seit Ewigkeiten hier wohnten, behaupteten, der Sturm habe eine Menge merkwürdiger Gestalten auf ihre Insel gebracht. Die meisten waren Mitarbeiter von Bautrupps oder Aufräumhelfer, aber es waren auch einige Zwielichtige darunter. Dass auch Eric vermutlich eher zur letzteren Kategorie gehörte, wussten sie nicht. Wenn er es recht bedachte, passten eigentlich die meisten der Leute, mit denen er sich seit seiner Ankunft in Pensacola Beach angefreundet hatte, in diese letzte Kategorie.
Eric beobachtete, wie der Himmel über der Bucht in Richtung Gulf Breeze allmählich heller wurde. Auf dem Wasser waren nur all jene, die dort arbeiteten. Howard erwartete ein paar Freunde aus Miami, auch wenn es sich bei Howard nicht so angehört hatte, als ob es sich wirklich um Freunde handelte. Anscheinend hatte er keine Ahnung, wie viele Tage sie die Küste herauf brauchen würden. Er hatte Eric
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