Orient-Express (German Edition)
Lysol auf das Dach gesprüht wurde und frische Exemplare der berühmten Moskauer Zeitungen als Sitzunterlage für uns auf dem Boden ausgebreitet wurden. Im nächsten Moment zückte der Sajjid sein Messer und begann, eine Melone zu schlachten, während Samsun Effendi, besser gesagt Towarischtsch Samsun, gierig schmatzte und unverfroren um Kognak bat. Wir vertrösteten ihn mit der Aussicht auf Wein und mit einem Melonenschnitz. In diesem Moment kletterten die beiden dreckstarrenden Burschen, die Samsuns Diener waren, an Bord, und mit nur fünf Stunden Verspätung rumpelte der Zug aus dem Bahnhof.
Eine merkwürdige Existenz führen die Leute an den Bahnstrecken im Kaukasus und vermutlich in ganz Russland. Die heruntergekommenen Verkehrsadern üben eine eigentümliche Anziehungskraft aus. In jedem Bahnhof sind Menschenmengen, und selbst an einsamen Bahnübergängen, weit entfernt von irgendeinem Dorf, stehen Gruppen von Männern und Frauen und beobachten den vorbeifahrenden Zug. Vielleicht betrachten sie sich gewissermaßen als Eigentümer der endlosen schimmernden Schienen und der ölverschmierten Lokomotiven, fühlen, dass ihr entbehrungsreiches, armes Leben auf diese Weise mit fernen, bedeutsamen Ereignissen verbunden ist. So viele Leute scheinen ihr ganzes Leben am Bahndamm zuzubringen. Die Soldaten der Roten Armee sind oft in Personenwagen und umgebauten Güterwagen einquartiert, die auf Nebengleisen stehen, lange Züge mit Stabswagen und Salonwagen und Lazarettwagen und Wagen voll Schwarzbrot und Salzheringen, was der Grundproviant ist. Daneben gibt es die gepanzerten Züge, die an allen Schauplätzen im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Außerdem sieht man, besonders in der Nähe von Städten, Hunderte von Güterwaggons mit Fenstern und Ofenrohren, die allen möglichen Leuten als Unterkunft dienen – Flüchtlingen von Gott weiß woher, Gleisarbeitern, kleinen Beamten, Zigeunern, Vagabunden jedweder Art. Und während der Zug vorüberfährt, schauen alle aus den Schiebetüren und Luken der Begleitwagen und gaffen die Soldaten und Bauern und Zivilbediensteten an, die auf dem Dach oder in den geöffneten Türen der ratternden Güterwagen sitzen und mit den Beinen baumeln.
2. Karakliss
Mondlicht fällt durch die hohen Pappeln am Bahndamm und verbindet sich auf dem Boden des Güterwagens mit dem Schein der Kerzen in meiner Ecke. Der Sajjid hat aus seinem Koffer und der Vorratskiste so etwas wie ein Bett konstruiert und befindet sich in einem unruhigen Schlaf. Wahrscheinlich träumt er vom Panislam und vom Kampf gegen Hunderte kleiner britischer Teufel mit gespaltenen Hufen und hohen Helmen. Am anderen Ende des Wagens haben der Georgier und Samsun und seine Jungs sich inmitten der Zeitungsbündel ihre Betten eingerichtet. Der Bahnsteig draußen liegt menschenleer im Mondlicht. Das Geräusch eines Flusses ist zu hören. Überall am Lattenzaun schemenhafte Figuren von Schlafenden. Mit dem frischen Geruch des Flusses und der Berge, die im hellen Mondlicht hinter den Pappeln schroff aufragen, weht manchmal der elende Gestank von kaltem Schweiß und Lumpen und verdreckten, unterernährten Leuten heran, die in den Schuppen am Bahnhof beieinanderliegen.
Seit Sonnenuntergang sind wir in Armenien, nachdem wir die neutrale Zone passiert haben, in der Georgier und Armenier die Dörfer des jeweils anderen niedergebrannt haben, bis die Briten 1918 einschritten. Auf dem letzten georgischen Bahnhof, bevor wir das lange Tal in den Kleinen Kaukasus hinauffuhren, versorgte sich jedermann mit Wassermelonen, die dort noch zweitausend Rubel das Stück kosteten. Hier oben in den Bergen und in den Hungergebieten kosten sie zehntausend oder mehr.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit passierte etwas sehr Aufregendes. Schüsse fielen, Trillerpfeifen waren zu hören. Samsun Effendi zog einen riesengroßen Revolver, den er heldenhaft herumwirbelte, und schickte den jüngsten Burschen los herauszufinden, was los war. Zuerst hieß es, dass eine Frau vom Dach eines Güterwagens gefallen und dabei zu Tode gekommen sei, aber schließlich stellte sich heraus, dass bloß ein Sack Mehl aus dem Güterwagen der amerikanischen Helfer gefallen war. Das Mehl wurde wieder aufgelesen, und jeder kehrte an seinen Platz zurück, in den Waggons oder auf dem Dach oder auf den Pufferstangen, und dann keuchte der Zug wieder bergan. Samsun Effendi wurde durch den Zwischenfall in beste Laune versetzt. Er erzählte von früheren Heldentaten und zeigte dabei
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