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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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zwischen zwei kahlen rosafarbenen Bergzügen. Hinter uns erhoben sich die beiden Ararats im goldenen Licht der Morgendämmerung. Neben dem Bahndamm war ein schmales Melonenfeld, das ein hagerer brauner Mann in zerschlissener persischer Tracht verzweifelt vor dem Ansturm der Reisenden zu schützen versuchte. Wir wuschen uns in einem Bewässerungskanal und frühstückten zuversichtlich, aber es war Mittag und brüllend heiß, bevor der Zug weiterfuhr. Der Sajjid verbrachte die Zeit damit, grandiose panislamische Ansprachen vor kleinen Gruppen zu halten, die der getreue Ismael zusammengetrommelt hatte und die sich vor der Waggontür scharten und von den Greueltaten der Armenier und vom Leid der Muslime berichteten. Unterdessen sprach ich, in der anderen Tür sitzend, in mühseligem Französisch und noch mühseligerem Englisch, mit einem Armenier, der mir von den furchtbaren Dingen erzählte, die die Türken und Tataren verübt hatten. Schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, fuhr aber nur ein paar Kilometer weiter bis zu einer verlassenen Ortschaft an der armenisch-aserbeidschanischen Grenze. Und hier sind wir nun, in einem stinkenden überfüllten Güterbahnhof neben einem zerstörten Bahnhof. Wie üblich gibt es in der Stadt kein einziges unversehrtes Haus. Die Muslime sagen, sie sei von den Armeniern zerstört worden, und die Armenier sagen, dass es die Türken waren. Ab und zu kommt Ismail, um uns zu versichern, dass der Zug in zwei Stunden in Richtung Nachitschewan und Dschulfa weiterfahren wird, der persischen Grenzstadt, die unser Ziel ist.
    Der Sajjid besucht eine kranke Frau im Nachbarwaggon. Er kommt zurück und sagt, sie hat Typhus in fortgeschrittenem Stadium, nichts mehr zu machen, in ein paar Stunden wird sie sterben. Wir sehen, wie sich die Leute in dem anderen Waggon einer nach dem anderen davonstehlen. Dann wird sie herausgebracht und neben das Gleis auf einen kleinen rotgelben Teppich gelegt. Sie ist eine Russin. Ihr Mann, ein schlanker Mohammedaner mit üppigem Bart, sitzt neben ihr und streicht ihr manchmal mit einer verstohlenen animalischen Geste über die Wange. Ihr Gesicht ist totenblass, grünlich, mit einem scheußlichen Zug um den Mund. Sie liegt reglos da, die nackten Beine schauen unter dem zu kurzen Kleid hervor. Nicht einmal das Rot der untergehenden Sonne verleiht ihrer Haut ein wenig Farbe. Und die Sonne versinkt in scharlachrotem Ungestüm hinter dem Ararat. Aus dem dreieckigen Raum zwischen den beiden Bergen schießt ein gelber Lichtstrahl in den Zenit. Ein Mann steht neben der Sterbenden, hält verlegen ein Glas Wasser in der Hand. Vom anderen Ende des Bahnhofs ertönt das Klagen eines georgischen Lieds, gespielt von Dudelsack und Trommel, zu dem Soldaten tanzen. Das Gesicht der Frau scheint immer weiter zu schrumpfen. Von der Sonne ist nur noch ein dreieckiges Leuchten hinter dem Ararat geblieben, das die beiden Gipfel von innen silbern säumt. Im Wind liegt ein säuerlicher Geruch von Dreck und Soldaten und Unrat. Der Sajjid sitzt deprimiert auf der mysteriösen Kiste in der Mitte des Güterwagens, schüttelt den Kopf und ruft mit kraftloser Stimme: «Avec quelle difficulté.»
    Und dann steht er wortlos auf und schließt die Tür auf der Seite, wo die Tote auf dem rotgelben Teppich neben dem Gleis liegt.
    Als ich spätabends mit einem Glas Wein im Mondschein herumstreifte – der getreue Ismail hatte Gott weiß woher eine Flasche für uns aufgetrieben – und den Mückenschwärmen auszuweichen versuchte, hörte ich die laute Stimme des Sajjids in erregter Diskussion, in der immer wieder das Wort Courrier diplomatique fiel. Da ich kein Freund von Diskussionen bin, ging ich den Bahndamm weiter entlang. Bei meiner Rückkehr war alles ruhig. Wie sich herausstellte, hatten bestimmte Leute versucht, in unseren privaten Waggon einzudringen, waren aber noch während der Diskussion verhaftet worden, weil sie ohne die vorgeschriebenen Pässe reisten, was für den Sajjid ein unmittelbarer Beweis göttlicher Vorsehung war.

6. Nachitschewan
     
    Wieder ein Güterbahnhof, diesmal leer, bis auf einen langen Lazarettzug. Fliegen schwirren in der drückenden Hitze. Die Stadt selbst liegt mehrere Kilometer entfernt am Ende einer glühenden Sandpiste. Die Lokomotive ist verschwunden, und die wenigen verbliebenen Güterwagen des Zuges sind leer. Die Leute liegen ermattet im Schatten unter den Waggons. Ein gelegentlicher Windhauch bewegt die oberen Äste einer dürren Akazie auf dem

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