Orient-Express (German Edition)
Bahnsteig neben dem Schuppen, wo früher Tee serviert wurde, aber diese Brise erreicht nicht den Güterbahnhof. Der Sajjid, dem der Schweiß aus allen Poren rinnt, zerschneidet eine Wassermelone, die wir hastig unter einem Taschentuch verschlingen müssen, damit die Fliegen uns nicht zuvorkommen. Derweil hält der Sajjid einen Vortrag über die Tugend der Geduld, die unerlässlich ist, wenn man als Courrier diplomatique tätig sein will. Nachdem wir die Melone aufgegessen und herausgefunden haben, dass wir definitiv noch acht Stunden in Nachitschewan bleiben werden, steige ich in den Waggon, lege mir zum Schutz vor den Fliegen ein Tuch über den Kopf, in der vagen Hoffnung, dass die Hitze mich schläfrig machen wird. Begieß den Braten. Dieser Ausdruck geht mir auf einmal durch den Sinn und das Bild eines kleinen Jungen, der fasziniert zusieht, wie das Hähnchen mit Bratensauce übergossen und dann in einer emaillierten Kasserolle in den Ofen geschoben wird. Ich überlege, ob ich genauso knusprig braun werde wie das Hähnchen. Fliegen schwirren unaufhörlich vor dem Tuch. Ihr Brummen verwandelt sich in den Schlager, der in Paris in der Zeit, als der sogenannte Friedensvertrag unterzeichnet wurde, sehr populär war:
I’ fallait pas, i’ fallait pas, i’ fallait pa-as y aller .
Draußen ertönt die Stimme des Sajjid, der in grandioser Manier über den Panislamismus und die Wiedererweckung Persiens doziert. Er muss einen Muselmann gefunden haben. Mein Kopf ist wie ein Suppentopf, der köchelnd auf dem Herd steht. Meine Gedanken schwimmen in einer dicken Sauce von Ermattung. Armenien. Ein schneller Blick auf die Generalstabskarte mit russischen, türkischen, britischen Fähnchen. Was für ein tolles Spiel. Die Fähnchen bewegen sich hierhin und dorthin. Lebendiger als Schach. Dann die Karten der Geheimdienste. Ganz, ganz schlau. Wir werden die Religion von A ausnutzen, damit er gegen B kämpft, wir werden die Kommandeure von D kaufen, damit sie A von hinten angreifen, und wenn alle am Boden liegen, werden wir die Landkarte fein säuberlich aufteilen. Die Fliegen summen: Zerleg den Truthahn, zerleg ihn bis ins Mark. Die Stücke nennen wir Armenier, Georgier, Assyrer, Türken, Kurden. Wenn aber alle am Boden liegen, können sie das Tranchiermesser nicht finden. Also bleiben alle am Boden liegen, und wenn sie des gegenseitigen Massakrierens müde sind, stellen sie fest, dass sie Hunger leiden. Und der Tod und die Wüste rücken näher, rücken näher. Wo im letzten Jahr ein Weizenfeld war, sind jetzt Disteln, und im nächsten Jahr werden nicht einmal Disteln dort wachsen. Und die Bauern sind Bettler oder Banditen. Und damit hat sich das Landkartenspiel im Orient fürs Erste. Aber das Tuch hat sich verheddert, so dass die Fliegen reinkommen. Ich werde runtersteigen und schauen, was der Sajjid seinen Zuhörern erzählt.
Der Sajjid erklärt, dass der Orient seine Probleme selbst lösen müsse, dass die Mohammedaner überall auf der Welt aus ihrer Schicksalsergebenheit erwachen, die ausländischen Ausbeuter verjagen und das Schicksal ihrer Nationen in die eigenen Hände nehmen müssen. Er sagt viele schöne Dinge, aber nicht, wie die zerlumpten Kinder, kleine Skelette mit großen Augen und aufgedunsenen Bäuchen, ernährt oder das Saatgut für den Herbst gekauft werden soll.
Dutzende von diesen kleinen Kindern in allen Stadien der Verelendung suchen unter den Waggons nach Essensresten. Sie sind nicht wie Tiere, denn Tiere wären schon längst verendet. Der Sajjid hat mit einigen von ihnen auf Turki gesprochen. Manche sind von muslimischen Eltern aus Eriwan, andere sind Christen vom Van-See. Manche wissen nicht, ob ihre Eltern Christen oder Muslime waren, und erinnern sich vor lauter Hunger an überhaupt nichts mehr, nur dieser Güterbahnhof und die Essensreste, die ihnen die Soldaten hinwerfen. «Es ist der achte Monat», sagt der Sajjid. In drei Monaten, im Winter, werden sie alle sterben.
7. Dschulfa (21. August 1921)
An diesem Abend spielte die Politik 14 verrückt, wie der Sajjid sagte. Es zeigte sich, dass die Lokomotive immer nur zwei Waggons von Nachitschewan nach Dschulfa bringen konnte. Konfliktparteien waren der Sajjid und eine Gruppe vage offiziell aussehender Armenier. Der Bahnhofsvorsteher ließ sich in unseren Wagen locken, wurde mit Tee und Zigaretten traktiert, und nachdem die Türen vor neugierigen Blicken verschlossen worden waren, steckten wir ihm ein paar türkische Pfund in Scheinen zu.
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