Orient-Express (German Edition)
Trotzdem war die Sache erst entschieden, als wir den brillanten Einfall hatten, den wichtigsten Mann der anderen Seite, einen Doktor, abspenstig zu machen und ihm einen Platz in unserem Wagen anzubieten. Der Gefoppte durchbohrte uns mit Blicken, während wir hinter einer zischenden kleinen Lokomotive aus dem Bahnhof rumpelten. Es war beinahe Vollmond. Das Gleis schlängelte sich in kühler und trockener Bergluft neben einem Fluss durch eine wilde Schlucht. Ich saß die meiste Zeit auf der mysteriösen Kiste neben der offenen Tür und atmete die Reinheit der nackten Felsen. Kein einziger Grashalm, kein Leben, kein Leiden, nur Felswände und schroffe Berge und das steinige Flussbett, und hinter jeder Biegung verbarg sich unvorstellbar Neues, Persien.
Und in dieser Nacht verschwand Aserbeidschan aus der rauhen Gegenwart in eine anmutig kolorierte Vergangenheit, wie Armenien in jener Nacht, als wir Basch-Nuraschin verließen, und auf einem anderen Bahnhof, ich weiß nicht wo, sah ich, in der Nase den Gestank schlafender Hungerleider und in den Ohren das aufdringliche Seufzen einer Flöte, im letzten Mondschein den hochmütigen Gipfel des Ararat.
VI KALESCHEN
1. Epikurs Garten
«Der Wagen ist da, M’sieur», sagte der langnasige Kellner mit einer Handbewegung über den Samowar hinweg. In diesem Moment war draußen auf der Straße plötzlich Glockengeklingel zu hören.
Meine Bemerkung, dass sich die Federung in meinen Rücken bohre, traf den Sajjid in seinem Nationalstolz. Er schmollte, bis wir auf unserem Weg durch den Basar einen Esel erschreckten, so dass die Tonkrüge, mit denen er beladen war, auf einen Berg Wassermelonen fielen, was für allgemeine Heiterkeit sorgte. Unser Wagen, eine bedenklich wackelige Konstruktion, sah wie eine kleine Viktoria aus. Gelenkt wurde er von einem korpulenten Mann namens Karim, der eine weiße Wollkappe auf dem Kopf trug. Hinter ihm auf einem Gurt hockte mit ein paar Hafertüten ein unangenehmer breitgesichtiger Knirps namens Maa’mat, mit dem Karim ständig schimpfte. Und so saßen wir da, die Beine über dem Gepäck ausgestreckt, grüne und gelbe Melonen auf dem Schoß, derweil die Federung uns raffiniert das Rückenmark aus dem Leib bohrte, und rumpelten, eine mächtige Staubwolke wie einen Kometschweif hinter uns herziehend, vorbei an der blauen Moschee und hinaus aus Täbris.
Einige Tage zuvor hatten wir in Dschulfa am Araxes die persische Grenze überquert. Nach der Grobheit der Dinge und des Lebens in Russland war der Balsam einer alten und schwachen und würdevollen Kultur ein wunderbarer Trost. Ich erinnere mich, wie ich von der Lokomotive stieg, die uns über die internationale Brücke in das sonnengleißende Tal von Dschulfa gebracht hatte, nicht ein grüner Baum wuchs auf den rosaroten und gelben Felsen ringsum, die in der Hitze wie Bühnenkulissen vibrierten. Im nächsten Moment wurden wir in einen kühlen Raum mit rosagrauen Lehmwänden geführt, an denen zwei Teppiche hingen, kleine Kupferkrüge mit Wasser wurden gebracht, und der Sajjid und ich saßen barfuß vor einer riesengroßen, epochemachenden Wassermelone, die uns von einem kleinen Mann namens Astulla Khan serviert worden war. Sein Gesicht war auf einer Seite wegen Zahnschmerzen geschwollen, um den Kopf hatte er sich ein weißes Tuch gebunden und oben so zusammengeknotet, dass zwei lange spitze Schleifen in die Höhe standen, wie man das aus alten Bilderbüchern kennt. Nach dem Mittagessen wurden Matratzen und hellrosa Kissenrollen gebracht, dösend verbrachten wir den nicht enden wollenden Nachmittag, schauten an die glatte Lehmdecke und auf das gewebte Porträt des Schahs auf einem der Wandteppiche und hinaus auf den Innenhof, wo ein zahmer Fasan am Rand eines kleinen Teichs herumspazierte und ein Kätzchen hingestreckt auf einem blauen und dunkelroten Teppich in der Sonne lag. Kein Laut war zu hören, nur gelegentlich aus dem Nebenzimmer das leise Blubbern von Astulla Khans Wasserpfeife. Endlose Epochen wohltemperierten Müßiggangs legten sich wie feine Seidentücher über die eigene Unruhe. Vielleicht war dies der Garten jenseits von Schmerz und Vergnügen, in dem Epikur leidenschaftslose Tage zugebracht hatte. Schließlich erhob sich das Kätzchen, streckte die weißen Beine, eines nach dem anderen, und tappte gemächlich zum Teich. Das Sonnenlicht war schon rötlich und warf lange Schatten. Die Berge jenseits des Araxes waren hellrosa mit purpurroten und indigofarbenen Schatten. Der Sajjid
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