Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
Vom Netzwerk:
geistesabwesend mit dem Revolver auf jeden von uns. Damit der Revolver wieder in seinem Halfter verschwand, mussten der Sajjid und ich eine Flasche unseres besten Kakhetia öffnen, was eine geradezu magische Wirkung hatte. Der kleinste Junge, ein neugieriges Kerlchen mit einem Gesicht so verhärmt wie das eines Esels, sang mit überraschend tiefer Stimme Wolga-Lieder. Der Georgier schnallte den Gürtel enger und begann zu tanzen und sich dabei mit den Händen auf die Schenkel zu klatschen. Ein breites Grinsen ging über das zerfurchte Gesicht von Samsun Effendi, das halb an ein Kamel und halb an eine Karikatur des «Terrible Turk» 13 erinnerte.

3. Alexandropol
     
    Staubbedeckte Soldaten und Güterbahnhöfe voller Waggons, deren Farbe unter der heißen Sonne abgeblättert ist. Die kleine Armenierin hat ihren Korb geschnappt und ist verschwunden. Nachts war sie irgendwo im Schlepptau eines weißschnurrbärtigen Bahnhofsvorstehers erschienen. Hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Der Sajjid richtete sich auf, und als er den Leberfleck auf ihrem Kinn bemerkte, den Orientalen so lieben, machte er ein herrlich affektiertes Gesicht und rief mit lauter Stimme: «Quel théâtre!» Samsun Effendi zündete eine Kerze an, strich sich das Haar glatt und betrachtete sich zufrieden in einem kleinen Taschenspiegel. Doch die Armenierin ließ sich von all diesem Getue nicht beeindrucken und schlief, den Kopf auf ihrem Korb, seelenruhig ein.
    Bei Tagesanbruch überquerten wir die Wasserscheide des Kleinen Kaukasus. Die Dörfer auf der Nordseite, verstreute Ansammlungen von geduckten Häusern aus Vulkanstein, mit Gras gedeckt und oft noch mit hohen Heuschobern darauf, waren unbeschädigt. Wohlgenährte Bauern waren schon auf den Feldern bei der Arbeit. Aber kaum begann der Zug, sich den Südhang hinunterzuwinden, war alles die reinste Wüstenei. Der letzte türkische Angriff war 1920 über das Land hinweggefegt. In den Dörfern war kein Haus unversehrt, die Ernte, ja selbst die Bahnhöfe waren systematisch zerstört und alles, was nicht niet- und nagelfest war, weggeschafft worden. Dschingis Khan und seine Horden hätten nicht gründlicher vorgehen können. Alexandropol, obschon restlos heruntergekommen, war vom Krieg offenbar verschont worden. Die Stadt erstreckt sich über Bahnhofsanlagen in einer gelben versengten Ebene, in der der Wind den Sand von hier nach dort wirbelt. Die auffälligsten Gebäude sind die Reihen grauer Baracken, in denen der Near East Relief Waisenkinder untergebracht hat. Auf dem Bahnsteig die übliche Menschenmenge, zerlumpte Bauern und Soldaten, Russen und Armenier.
     
    Als ich den Ararat zum ersten Mal sah, zeichnete er sich so hauchzart vor einem grauen Himmel ab wie der Fudschi in einigen von Hokusais Hundert Ansichten , ein hoch aufragender, weißgemaserter Kegel in perlfarbenem Dunst. Der Zug wand sich um eine Bergschulter, durch rötliches Ödland, das in den Ebenen alkalifarben glitzerte. Eine Weile zuvor hatte der Georgier über ausgedörrte Hügel gezeigt und «Ani» gesagt. Irgendwo in der steinigen Ödnis zu unserer Linken lag die Hauptstadt des alten Königreichs Armenien. Beim Anblick des Ararat war ich so aufgeregt, als sei die Arche auf dem Gipfel noch immer zu sehen, und ich versuchte, den Sajjid für diese Geschichte zu begeistern. Doch er ließ sich nicht ablenken von seiner aufwendigen Konstruktion aus Stöckchen und Bindfaden, die verhindern sollte, dass der kleine Teekessel von unserer noch kleineren Petroleumlampe fiel. Als er sich schließlich erhob, betrachtete er den Berg lange Zeit und aufmerksam, nippte aus einer Blechtasse Tee und sagte dann kopfschüttelnd: «Der Damavand ist höher und spitzer.» – «Aber die Arche mit Noah und dem Elefanten und dem Känguru und dem ganzen Rest des Zoos ist doch nicht auf dem Damavand gelandet!» – «Auf dem Damavand soll es Geister geben», sagte der Sajjid. Und da die Diskussion für ihn zu einem befriedigenden Abschluss gebracht war, setzte er sich wieder in seine Ecke und brühte eine neue Kanne Tee.
    Wir kamen aus den Bergen hinunter in ein unregelmäßiges bassinartiges Tal, an dessen Ende der weißgemaserte Gipfel des Ararat sich in zwei großen starkgezeichneten Linien über der bläulichen Bergmasse erhob. Im Vordergrund waren für einen kurzen Moment die dachlosen Steinmauern eines Dorfs. Hinter einer Hütte stieg Rauch von einem offenen Feuer auf, aber sonst war in der ganzen Landschaft von zerklüfteten Bergen und

Weitere Kostenlose Bücher