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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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aschgrau-weißen Alkaliebenen nirgendwo etwas Lebendiges zu sehen. Dann kam ein Gewitter, das sich seit längerem indigofarben über den Bergen im Westen aufgetürmt hatte, und hüllte alles in undurchdringliche Massen von Regen und Hagel.
    Auf einem Bahnhof in der Ebene baten wir Samsun Effendi, Wasser für Tee zu besorgen, doch zur allergrößten Freude des Sajjid kehrte er mit einer Mademoiselle zurück, wie der immer sagt.
    Wir saßen auf der mysteriösen Kiste und schauten über die Ebene hinweg auf den Ararat, der nun, viel näher, aufrecht und leuchtend über der Dämmerung stand, die sich bereits über die Ebene legte. Wir hatten der Mademoiselle eine Tasse Tee und Schwarzbrot und Kaviar aus unseren Vorräten angeboten, und sie schien irgendwie zufrieden und entspannt, wie eine Katze, die man hinter den Ohren krault. Offensichtlich war sie die ganze Zeit in Abwehrhaltung gewesen. Sie war in einem Waggon voller Soldaten aus Tiflis gekommen. Sie hatte ein sympathisches teutonisches Gesicht mit runden Wangen und stahlblauen Augen wie eine Vermeersche Frauengestalt und trug ein fleckiges weißes Kostüm, das einen Hauch von Stil hatte. Sie trug Strümpfe, eine Besonderheit in diesem Teil der Welt, und kleine Schnürsandalen. Allmählich taute sie auf, hatte aber Mühe, sich ihres Französisch zu erinnern. «Ja, ich reise nach Eriwan. Ich arbeite dort als Stenotypistin in einem Büro. Natürlich in einem staatlichen Büro, es gibt ja keine anderen ... Nein, es ist dort nicht so schlecht. Die Leute hungern ... Sicher, es ist schlimmer als in Tiflis, aber wissen Sie, wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Wir bemerken diese Dinge nicht mehr. Wir haben ein hübsches Haus und Rosen im Garten, ich habe Hunde ... Ich reite sogar. Trotzdem, es ist ein elendes Leben, und alles nur, weil meine Eltern beim Vormarsch der Deutschen auf Riga Angst bekamen. Wir sind nämlich Esten, keine Russen. Wir haben in Riga gelebt, und als damit zu rechnen war, dass die Deutschen Riga bombardieren würden, flohen wir nach Russland. Auch viele andere sind geflohen. Und dann fingen unsere Probleme an.» Sie lachte. «Was für eine Zeit!»
    Der Zug hielt auf einem Bahnhof. Die Ebene war nun sumpfig. Vor uns, hinter einem Schilfdickicht, war der Ararat, unten indigo, darüber waagerechte Dunststreifen, der Gipfel leuchtend rosa. Dahinter, wie ein Schatten, der Kleine Ararat, ganz dunkel. Mückenschwärme sirrten uns um die Ohren.
    «Aber ich wollte Ihnen erzählen», fuhr die Mademoiselle fort, «oh, diese Mücken! Spätestens nach einer Woche in Eriwan bekommt man Malaria. Es ist wirklich ein grauenhafter Ort ... Alle sterben dort ... Na jedenfalls, ich war damals noch ein Kind, ich bin ja noch nicht so schrecklich alt. Ich habe meine Eltern angefleht, nicht zu gehen. Wir hatten ein so schönes altes Haus mit Linden ringsherum und einen Garten voller Sträucher, dort habe ich gespielt. Sie waren noch nie in Riga? Die Ostsee ist im Sommer so schön, die vielen Inseln ... Meine Großmutter wollte nicht gehen. Ich glaube, sie ist noch immer am Leben, wohnt in unserem alten Haus. Ich werde zurückkehren, auch wenn ich dabei sterben sollte. Ich habe schon einen Pass beantragt und mit dem estnischen Konsul in Tiflis gesprochen. Deswegen bin ich dorthin gefahren. Aber es ist so schwer, dort etwas zu erreichen. Am liebsten würden sie alles verbieten.» Sie lachte wieder. «Ah, ich könnte mich furchtbar aufregen. Sie ziehen einfach ihre Politik durch, und wenn jemand etwas unternehmen will, heißt es: ‹Verboten, verboten.›»
    Der Sajjid in seiner Ecke hatte wieder Wasser für Tee aufgesetzt. Ein Ruck, der durch den Zug ging, warf alles durcheinander, Kanne und Lampe und alles, so dass ich von der mysteriösen Kiste sprang und half, das Gerüst wieder aufzubauen, von dem es abhing, wie oft wir eine Tasse Tee trinken konnten. Wenig später sah ich, dass Samsun Effendi, der abermals mit seinem Taschenspiegel zugange gewesen war, sich auf meinen Platz gesetzt hatte und in ein Gespräch mit Mademoiselle vertieft war. Sie warf mir über seine Schulter einen Blick zu und sagte, die Nase gerümpft wie Karnickel: «Il me fait la cour. Pensez!»
    Der Sajjid blickte zwischen den beiden hin und her und erklärte plötzlich mit Stentorstimme: «Quel théâtre!» Dann lachte er, griff nach der letzten Wassermelone, zerlegte sie geschickt mit seinem Taschenmesser und reichte mir eine Hälfte als Friedensgabe.
    Durch das obere Fensterchen des Güterwagens

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