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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Dos Passos
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Länge. Nachdem wir gegessen hatten, Brot und Joghurt und Käse und Hühnchen, und dazu viele kleine bauchige Gläser Tee getrunken hatten, legten wir uns, in Decken eingewickelt, auf den Fußboden neben dem unverglasten Fenster, durch das die gute frische Gebirgsluft hereinwehte. Nachdem ich mich eingerollt hatte, bemerkte ich, dass der Sajjid sich aufrichtete und nervös zwischen seinem Geldbeutel, den er in der Hand hielt, und der ausgestreckten Gestalt von Hakim Sultan hin- und herblickte. Doch in Schibli hatten wir einen ungestörten Schlaf.

3. Politik
     
    Am nächsten Mittag aßen wir in Schischme-dosch, einem für Raubüberfälle berüchtigten Ort, in einer einsamen Herberge, die aus einem einzigen Raum bestand, auf dem Gipfel eines Berges inmitten eines langen, trostlosen Tals. Wieder Erzählungen von den Schahsavan, von überfallenen Dörfern und erbeuteten Herden und Frauen.
    Die Nacht in einem sehr schönen Dorf, Gareh Chaman, an den Flanken einer orangebraunen Schlucht, beiderseits eines sprudelnden Bachs, baumbestanden und durch runde Wachtürme gut geschützt. Auf dem Dach eines Hauses unter zwei großen silberstämmigen Pappeln am Dorfrand wurden Teppiche für uns ausgebreitet, ein Samowar herbeigebracht, Hühner zum Prüfen, Wasserkrüge zum Waschen, und bis zum Abendessen hielt der Sajjid in seiner Eigenschaft als Doktor eine richtige Sprechstunde, öffnete und schnitt Geschwüre, fühlte den Puls und gab Tabletten. Und dann, während wir ein göttliches Mahl zu uns nahmen, das auf gehämmerten Zinntabletts angerichtet war, wandte sich der Sajjid an den Mollah und den Herrn des Dorfes und den Koch und den kleinen Jungen, der uns bediente, mit seiner üblichen Ansprache über die Ingliz und die Français und die Amerikai und die Osmanli im Allgemeinen und die Politik von Persien im Besonderen, nach dem Motto: Iran den Iranern und schlagt die Farangis in ihrem eigenen Spiel. Nachts rauschten die Pappeln im Wind, die Sterne funkelten in immer neuen Facetten, und in der Ferne heulten Schakale.
    Zwischen Ghare Chaman und Turkomanchay, wo Persien den ersten seiner katastrophalen Verträge mit einer europäischen Macht unterzeichnet hatte, stießen wir auf die Karawane eines Granden aus Täbris, der auf Pilgerfahrt zum Grab des Imam Reza in Meschhed war. Diese tänzelnden weißen Pferde und die Rufe der Eseltreiber und die wippenden Tragekörbe voller strahlender Kinder und tschadorverhüllter Damen! Ein feiner weißbärtiger Mollah mit dem blauen Turban eines Sajjid, Nachkomme des Propheten, ritt auf einem gepflegten grauen Pferd voran, dessen Schweif und Mähne mit Safran gefärbt waren. Nicht nur die Lebenden, auch die Toten profitierten von der Pilgerreise: am Ende der Karawane kam ein langer Zug von Maultieren, beladen mit Särgen, die in heilige Erde umgebettet werden sollten.
    «Wenn sie sich um die Lebenden genauso kümmern würden wie um die Toten», sagte der Sajjid, als wir uns von dem Staub und dem Gebrüll entfernt hatten, «wäre Iran eines der besten Länder von der Welt. Wenn sie das Geld sparen würden, das sie für Pilgerreisen ausgeben, und in Fabriken und Eisenbahnen investieren würden ...»
    «Aber warum Fabriken und Eisenbahnen ...?»
    «Waren Sie schon einmal in Deutschland? Nur kurz? Ah, die commodité ... Alles ist so praktisch. Hier ist alles so kompliziert. Unsere Bauern, wenn Sie wüssten, wie hart sie arbeiten, und trotzdem sterben sie, wenn es eine Hungersnot gibt, nur damit irgendein Würdenträger ein Vermögen machen kann ...»
    Das Gespräch wurde unterbrochen, weil unser Wagen in einer Schlucht im Morast feststeckte. Wir mussten aussteigen, Maa’mat musste geweckt werden, denn er musste schieben, und die Pferde mussten mit Peitsche und Rufen angetrieben werden, bis der Wagen schließlich, fast umkippend, aus dem Morast schnellte, die Anhöhe hinaufschoss und auf halbem Weg zum Stehen kam. Dies erschien uns als exzellente Gelegenheit, eine Melone zu verspeisen, eine große, gelbe, innen milchige Melone mit einem leichten Mandelgeschmack. Der Sajjid versank in einer Wolke rosiger Erinnerungen, und als wir in unserer tolpatschigen Kutsche wieder Platz genommen hatten, begann er langsam zu erzählen.
    «Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich, aus Konstantinopel kommend, in Leipzig eintraf ... Ah quelle commodité! Es war so ruhig in dem Hotel mit dicken Teppichen auf dem Boden, und wenn man etwas bestellte, zack, war es da! Ich habe sehr gut gespeist und ausgezeichneten

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