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Orient-Express (German Edition)

Orient-Express (German Edition)

Titel: Orient-Express (German Edition)
Autoren: John Dos Passos
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etwas von Frieden und Gottes Segen), und weil in ihren Augen selbst ein Kafir, der an dem Grabmal vorbeigeht, einen Hauch von der Heiligkeit des Marabut mitbringt. Für sie hat ein Pilger also eine gewisse Bedeutung.
    Vielleicht haben sie recht, aber diese Begeisterung für das Reisen, für Dampfer, Züge, Autobusse, Maultiere, Kamele ist höchstwahrscheinlich nur eine tückische und raffinierte Droge, eine in der Kindheit angenommene schlechte Gewohnheit, die höchstens einen Psychoanalytiker erfreut, der sich mit manischen Zuständen beschäftigt. Wie bei allen Drogen, muss die Dosis ständig gesteigert werden. Ein tröstlicher Gedanke: während unsere Körper wie Eichhörnchen im Käfig der Meridiane gequält werden, wie Blaise Cendrars es nennt, sitzen unsere Seelen vielleicht ruhig in jenem unbeweglichen Zug, in der dunkellackierten, neu riechenden Transsibirischen, und sehen das endlos abrollende Panorama von Flüssen und Seen und Bergen.
     
    Jetzt ist es Zeit für die homerischen Eisenbahngesänge. Blaise Cendrars hat einige geschrieben in geistreichem Französisch, sonor und direkt wie das Rattern der großen Expresszüge. Carl Sandburg hat ein, zwei geschrieben. Ich werde im Folgenden einige Fragmente aus der Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France zusammenstellen. Das passt irgendwie in dieses Hotelzimmer mit den lackierten Kiefermöbeln und dem blauen Nachttopf und den ausgeblichenen, staubzerfressenen Gardinen. Unter dem Balkon sind Bäume, deren Namen ich nicht kenne, das leere Gleis der Schmalspurbahn, eine Straße, von Lastwagen zerwühlt. Es regnet. Eine Kröte lärmt im Gebüsch. Die alten erderschütternden Maschinen werden eine nach der anderen ausgemustert, und schon sind die Mythenproduzenten am Werk. Am Ende werden sie alle dastehen wie Homers 35 umherwandernde Götter im rosigen Licht eines ordentlichen Olymp. Hier ist der Gesang der Transsibirischen Eisenbahn:
     
Damals wuchs ich heran
War kaum sechzehn und hatte schon die Erinnerung an
   meine Kindheit verloren
Ich war 16 000 Meilen weit weg vom Ort meiner Geburt
War in Moskau, in der Stadt der tausendunddrei Kirchtürme
   und der sieben Bahnhöfe
Und ich konnte nicht genug bekommen von diesen
   tausendunddrei Türmen und sieben Bahnhöfen
Denn meine Jugend war damals so leidenschaftlich und
   so verrückt
Dass mein Herz abwechselnd brannte wie der Tempel von
   Ephesus oder der Rote Platz von Moskau
Wenn die Sonne untergeht
Und meine Augen leuchteten alte Wege aus
Und ich war bereits ein so schlechter Dichter
Dass mir nicht gelang, etwas zur Vollendung zu bringen
............
 
Ich verbrachte meine Kindheit in den Hängenden Gärten
   von Babylon
Und schwänzte die Schule auf den Bahnhöfen, wo die Züge
   zur Abfahrt bereitstanden
Jetzt lasse ich all die Züge hinter mir herjagen
Basel–Timbuktu
Ich habe auch bei Pferderennen gewettet in Auteuil
   und Longchamp
Paris–New York
Jetzt jage ich all die Züge durch mein Leben
Madrid–Stockholm
Und meine Wetten habe ich alle verloren.
Nichts bleibt mir mehr, nur noch Patagonien, Patagonien, das
   meiner grenzenlosen Traurigkeit entspricht,
   Patagonien, und eine Reise in die Südsee
Ich bin unterwegs
Ich bin immer unterwegs gewesen
Ich bin unterwegs mit der kleinen Jehanne von Frankreich
Der Zug macht einen Salto mortale und fällt auf die
   Räder zurück
Der Zug fällt zurück auf seine Räder
Der Zug fällt immer auf all seine Räder zurück
 
«Blaise, sag, sind wir weit weg von Montmartre?»
 
Wir sind weit weg, Jehanne, seit sieben Tagen bist du unterwegs.
Weit weg bist du von Montmartre, von diesem Hügel, wo
   du aufgewachsen bist, von Sacré-Cœur, in deren
   Schatten du gelebt hast
Verschwunden ist Paris und sein gewaltiges, hell loderndes Feuer
Nur die immerwährende Asche ist geblieben
Der Regen, der fällt
Der Torf, der sich vollsaugt
Sibirien, das vorbeiwirbelt
Die schwere Schneedecke, die sich ausbreitet
Und das Glöckchen des Wahnsinns, das wie ein
   letztes Verlangen in der blauen Luft zittert
Der Zug zuckt wie ein Herz inmitten bleigrauer Horizonte
Und dein Kummer grinst dich höhnisch an ...
 
«Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?»
 
Die Sorgen
Vergiss die Sorgen
All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang
   der Strecke
Die Telefondrähte, an denen sie hängen
Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und
   sie erdrosseln
Die Welt streckt sich, dehnt sich
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