Orphan 1 Der Engel von Inveraray
dem er noch immer lebt und arbeitet.
Schon damals hatte ich das Gefühl, dass er sich zu einem bedeutenden Künstler entwickeln würde. Ich ahnte seinerzeit allerdings nicht, wie ungemein talentiert er war."
„In der Tat." Mr. Lytton ließ den Blick über die fünf Gemälde schweifen, die Haydon in seine Galerie gebracht hatte.
„Als ich ihm von meiner Absicht schrieb, seine Werke in Schottland auszustellen, war er zunächst nicht besonders begeistert." Der Kunsthändler sollte glauben, er lande einen großen Coup mit der Ausstellung der Werke dieses großen Künstlers.
„Ich fürchte, es ist allgemein bekannt, dass er ein rechter Eigenbrötler ist. Ein eiserner Junggeselle, der Haus und Hof nur höchst selten verlässt. Er verabscheut alles, was ihn von seiner Arbeit ablenken könnte, Sie verstehen. Wein zu jeder Tages- und Nachtzeit, ohne sich Ruhe zum Essen oder Schlafen zu gönnen. Ich würde sagen, er hat wirklich etwas von einem Exzentriker."
„Wie so viele Künstler", bemerkte Mr. Lytton weise. „Man fragt sich bisweilen, ob Wahnsinn der Preis für Genialität ist." Er unterzog die Gemälde einer erneuten Begutachtung. „Ich habe von Boulonnais gehört", murmelte er, denn Haydon sollte nicht glauben, er wäre nicht auf dem Laufenden, „doch dies ist das erste Mal, dass ich das Vergnügen habe, sein Werk mit eigenen Augen zu sehen. Kein Zweifel, es ist höchst eindrucksvoll. Die Einfühlsamkeit, mit der er seine Motive auf die Leinwand bannt, ist wahrlich einzigartig."
Haydon lächelte. Er hatte damit gerechnet, dass Mr. Lytton behaupten würde, diesen imaginären Künstler zu kennen, um sich keine Blöße zu geben. „Wie Sie sicher wissen, steht der Name Georges Boulonnais augenblicklich in den Pariser Salons und bei den Kunsthändlern der Stadt hoch im Kurs. Seine Werke werden bereits am ersten Tag ihrer Ausstellung verkauft, und viele Sammler flehen ihn um ein Vorkaufsrecht auf zukünftige Gemälde an. Der berühmte Kunstkritiker Monsieur Lachapelle vom Le Parisien hat vorausgesagt, dass Boulonnais sich rasch zu einem der gefeiertsten Künstler dieses Jahrhunderts entwickeln wird."
„Man müsste blind sein, um das nicht zu erkennen", stellte Mr. Lytton beiläufig fest.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Blake, dass Sie mich auf Ihre Verbindung zu diesem wunderbaren Künstler aufmerksam gemacht haben. Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass wir alle fünf dieser Gemälde verkaufen werden. Der Duke of Argyll ist ständig auf der Suche nach interessanten Werken für seine ohnehin schon eindrucksvolle Sammlung, und es wird mir ein Vergnügen sein, ihn so bald wie möglich zu einer privaten Besichtigung einzuladen. Ich bin sicher, dass wir eine Ausstellung für alle weiteren Arbeiten ausrichten können, die Monsieur Boulonnais mir anvertraut."
„Wie erfrischend, einem Mann zu begegnen, der Kunst nur in seiner eigenen Gemeinde fördern möchte, statt an den Gewinn zu denken, der sich andernorts damit erzielen ließe. Sie sind eine wahre Zierde für Ihren Berufsstand", sagte Haydon.
Mr. Lytton blinzelte verdutzt.
„Ich bezweifle nicht, dass Sie hier auf beachtliches Interesse stoßen werden, und achte Ihren Entschluss, die Werke in Inveraray zu zeigen, statt eine wesentlich größere Ausstellung in Ihrer Galerie in Glasgow zu veranstalten." Haydon erhob sich, als wäre ihre Unterredung beendet. „Keine Frage, wenn ein aufstrebender Künstler wie dieser der Kunstwelt in einer Großstadt vorgestellt wird, geht die Seele seines Werkes im Trubel der Ausstellung und des Verkaufs unter. Man muss sich nur die Ereignisse bei Monsieur Boulonnais' jüngster Ausstellung in Paris vor Augen führen, um das zu begreifen."
Mr. Lytton starrte ihn an. „Was ist geschehen?"
„Nun, alle Bilder waren innerhalb weniger Stunden verkauft, und die Sammler flehten die Galeristen an, Angebote anzunehmen, die den angegebenen Preis um das zwei- bis dreifache überstiegen. Derartige Schauspiele mögen der Galerie Berühmtheit und finanziellen Gewinn einbringen, doch in meinen Augen sind sie nicht dazu angetan, die Erhabenheit der Kunstwerke zu bewahren, worin Sie mir sicher zustimmen werden."
„Bis zu einem gewissen Grad, ja." Mr. Lytton überschlug rasch seinen voraussichtlichen Gewinn bei dem Unternehmen. „Doch ich glaube auch, dass große Kunst ein möglichst breites Publikum verdient hat", schränkte er vorsichtig ein.
„Außerdem trägt ein derart begeisterter Zuspruch dazu bei, die finanzielle Zukunft des
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