Orphan 1 Der Engel von Inveraray

Eroberer. Einst fielen sogar große Teile Schottlands und Irlands unter ihre Herrschaft."
    Jack betrachtete das eindrucksvolle Schiff mit großer Aufmerksamkeit.
    „Die Wikinger haben sich im Laufe der Zeit große Kenntnisse über die Segelschifffahrt und Kursbestimmung angeeignet", erklärte Genevieve weiter. „Sie mussten den Wind und die Wellen lesen können und ihre Position aus dem Stand der Sonne und des Mondes ableiten. Sie waren auf der Suche nach neuem Land und Reichtümern. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten sie ständig ihre Kenntnisse erweitern, entsetzlichen Stürmen trotzen, Krankheiten, Hitze und Kälte ertragen. Und doch gaben sie nicht auf, obwohl die meisten Männer gewiss gerne kehrtgemacht hätten und nach Hause gesegelt wären."
    Jack starrte schweigend auf die Abbildung des Schiffes.
    „Wir vergessen oft", fuhr Genevieve leise fort, „dass alle Menschen mit sehr wenig Wissen auf die Welt kommen. Niemand wird geboren und kann sofort lesen und schreiben, ein Schiff bauen oder über die Weltmeere segeln. All diese Dinge müssen wir lernen. Manche Leute haben das Glück, früher damit beginnen zu können als andere. Deshalb denkt man manchmal, sie wären klüger, doch das stimmt nicht. Sie hatten nur mehr Zeit, sich das Wissen anzueignen."
    Er schwieg einen langen Augenblick. „Die anderen halten mich für dumm", brummte er schließlich mit leiser, verärgerter Stimme.
    „Das tun sie bestimmt nicht", widersprach Genevieve. „ Jamie und Simon sind ganz gebannt von allem, was du tust, weil du auf sie so erwachsen und welterfahren wirkst. Annabelle und Grace sind alt genug, um sich an die Zeit zu erinnern, als sie selbst noch nicht lesen konnten, und haben daher Verständnis für dich. Und Charlotte hält so große Stücke auf dich, dass ihr alles an dir einfach vollkommen erscheint."
    Jack reagierte nicht.
    „Sie verstehen nicht, was ich meine", sagte er nach einer Weile und zog ungehalten die Brauen zusammen. „Ich bin älter, also sollte ich mehr wissen als sie. Und wenn sie sehen, wie ich auf ein blödes Wort starre, das Sie mir schon fünfmal erklärt haben und das ihnen so einfach vorkommt, müssen sie mich einfach für dumm halten. Ich glaube ja sogar selbst, dass ich dumm bin, verflucht!"
    „Es steht völlig außer Frage, dass du ein außergewöhnlich gewitzter junger Mann bist", entgegnete Genevieve mit Nachdruck. „Niemand hätte so lange auf der Straße überleben können wie du, ohne mit Scharfsinn und Klugheit gesegnet zu sein. Lesen und Schreiben zu lernen braucht Zeit, das ist alles. Wenn es dich stört, gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet zu werden, können wir beide uns zum Lernen hierher zurückziehen. Dann brauchst du dir keine Sorgen darüber zu machen, was die anderen von dir denken. Wäre dir das lieber?"
    Jack blickte sie erstaunt an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Genevieve sich solche Umstände machen würde, um ihm zu helfen. Er hatte angenommen, sie würde ihm mitteilen, er solle sich mehr Mühe geben und sich nicht um die anderen Kinder scheren, und es dabei belassen. Warum sollte es sie auch kümmern, ob er lesen und schreiben lernte oder nicht?
    Sie schaute ihn erwartungsvoll an, und mit einem Male schien es ihm sehr wichtig, sie nicht zu enttäuschen.
    „Ja", antwortete er. „Das wäre besser."
    „Gut. Du kannst das Buch behalten, wenn du möchtest. Auch wenn du es jetzt noch nicht lesen kannst, gibt es viele schöne Bilder von Schiffen darin, die dir gewiss gefallen werden. Wenn wir unseren Unterricht beendet haben, werden wir uns ein wenig Zeit nehmen, um sie anzuschauen, und ich werde dir etwas über die Männer erzählen, die sie gebaut haben, und die aufregenden Orte, die sie besuchten.
    Vielleicht wirst auch du eines Tages auf einem Schiff in ferne Länder reisen, wer weiß, vielleicht sogar nach Amerika." Sie lächelte. „Dann wirst du mir schreiben und von all den wunderbaren Dingen berichten, die du gesehen hast."
    Jack blickte gebannt auf das Bild des Wikingerschiffs. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er je einen Fuß auf ein Schiff setzen könnte. Er hatte sich nie vorgestellt, eines Tages die Welt außerhalb Schottlands zu erkunden. Doch nun, da Genevieve davon sprach, fühlte er sich mit einem Male seltsam aufgeregt, als sei dies ein Traum, den er sehr wohl verwirklichen konnte. Und warum auch nicht?
    Genevieve sagte, er sei klug, und er wusste, dass er hart arbeiten konnte, wenn er wollte. Vielleicht würde er eines